Felicitas Hoppe ist am 22. Dezember 1960 in Hameln geboren. Sie studierte Literatur, Religionswissenschaft und Sprachen unter anderem in Tübingen, Berlin und Rom. Als Poetik-Dozentin ist sie weltweit unterwegs. 2012 erhielt sie den Georg-Büchner-Preis und über 20 weitere Preise. „Schriftsteller sind keine Verwalter von Sinn und Moral, genauso wenig wie professionelle Provokateure. Sie bewirtschaften alternative Räume, in denen sich Dinge ereignen, von denen wir wenig wissen und die wir nicht kontrollieren können“, sagt Felicitas Hoppe im Interview mit Uwe Dörwald.
Das Interview wurde am 26. August 2015 im Rahmen einer Recherche für die Sendung „Von Stiefmüttern und Gutmenschen. Grimms Märchen – Eine literarische Erfolgsgeschichte“ geführt. Felicitas Hoppe hat die Gabe, in den Grimmschen Märchen aktuelle Aspekte wie Ausgrenzung, Flucht oder Heimkehr zu finden und in ganz neuen Kontexten zu benennen.
Das Interview wurde von Felicitas Hoppe autorisiert. Sie können einen kleinen Ausschnitt des Interviews auch hören. Der vollständige Mitschnitt ist im Ton-Archiv – Adolf Stock hinterlegt.
Von Stiefmüttern und Gutmenschen. Grimms Märchen – Eine literarische Erfolgsgeschichte. Feature Deutschlandfunk Kultur vom 25.09.2015
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Neuste Veröffentlichung: Felicitas Hoppe: Fährmann hol über! Oder wie man das Johannesevangelium pfeift. Freiburg, Basel, Wien, Herder Verlag, 2021 www.herder.de
Sie sagen, man könne die Welt als eine große komplizierte Welt ansehen und sollte auf Vereinfachungen möglichst verzichten?
Ich glaube, dass die Welt der Phantasie und die Wunschwelt ein ganz lebendiger Teil unserer realen Welt sind. Das entspricht einer realen Erfahrung, die nichts mit Schriftstellerei zu tun hat, sondern darauf basiert, dass ich, wenn ich Menschen begegne, merke, dass sie parallel immer in ganz vielen verschiedenen Räumen unterwegs sind. Jeder Mensch hat seine Wünsche, seine Tagträume, er denkt sich Alternativen zu seinem Leben aus. Und das ist auch Realität, das Sich-Wegträumen, sich Alternativen auszudenken, sich Geschichten zu erzählen – das ist hochgradig realistisch; und das betrifft auch das Märchen. Alles was im Märchen erzählt wird, hat mit dieser einen Welt, in der wir leben, zu tun, davon bin ich überzeugt.
Was ist mit diesen verschiedenen Welten? Diese Alternativ-Welten sind ja Traumwelten, und es ist ja auch gefährlich, sie zu betreten.
„Ich glaube, wirklich gefährlich wird es eigentlich nur dann, wenn wir diese Welten voneinander abtrennen. Wenn wir sie zu einem organischen Teil unseres Lebens machen, gibt es stattdessen eine Rückbindung. Also, wenn ich in einer schwierigen Situation bin und dieser Situation dadurch begegne, dass ich mir oder jemand anderem Trost zuspreche, zum Beispiel sage: Das wird schon wieder, oder: Stell Dir doch mal vor, vielleicht... dann ist das ein Therapeutikum, eine Form des Umgangs mit dem, was mir widerfährt, indem ich das erzählend und besprechend zu bewältigen versuche. Wenn ich dabei manchmal die Dinge etwas schön rede und mir einrede, dass ich die Tochter des Königs ja vielleicht doch noch heiraten kann, ist das für mich keine Weltflucht, sondern ein normaler Reflex.
Natürlich, in gewissen Formen von Science Fiction baut man sich unter Umständen Welten, die ganz in sich ganz geschlossen sind. Ich dagegen glaube, dass wir zwischen den verschiedenen Welten die Verbindungstüren einfach immer offen halten müssen. Die Gefahr besteht nicht in der Existenz verschiedener Welten, sondern darin, dass wir sie voneinander abtrennen, weil wir Angst vor ihnen haben. Das bringt dann manchmal sehr seltsame Literatur hervor. Im Märchen dagegen ist das nie so. Im Märchen ist der Ausgangspunkt immer eine realistische Situation.“
Es sind natürlich auch psychologische Situationen, Wünsche oder Enttäuschungen und so weiter. Und da kommen die Märchen ja der Literatur sehr nahe, weil sie sich mit ähnlichen Seelenzuständen beschäftigen.
Das ist der Punkt, der mich beschäftigt, dass die Märchen, so paradox das scheint, die Urzelle realistischer und im Endeffekt auch psychologischer Literatur sind. Wie ein Brühwürfel. In Märchen finde ich kondensiert, was ich auch in vielen Romanen finde. Natürlich geht es oft um überhöhte Wünsche, um Prinzessinnen, Könige und so weiter, aber wenn ich mir die Mehrzahl der Märchen anschaue, sehe ich, dass es sich um Lebenssituationen handelt, die wir kennen und die nicht selten sozial aufgeladen sind: Menschen in Not, Menschen, die kein Geld haben, Menschen, die Hunger haben, Ehepaare, die zu viele Kinder haben, die müssen dann raus aus dem Haus in die Welt. Und es gibt Ehepaare, die können beim besten Willen keine Kinder bekommen. Das ist für mich das Interessanteste, weil wir in einer Zeit leben, die sich ja sehr stark mit Reproduktionsmedizin beschäftigt. Die Märchen sind also fast immer oder jedenfalls häufig Spiegel sozialer Probleme.
Und sie sind Reisegeschichten, Vertreibungsgeschichten. Wenn wir heute über die Flüchtlinge reden, müssen wir nur auf die Märchen schauen: Die Leute reisen doch nicht, weil sie Spaß daran haben, sondern weil sie keine Wahl haben, die müssen in den Wald, übers Meer, sie müssen irgendwohin, sie sind Vertriebene. Wo habe wir das präsenter als im Märchen? Davon kann sich jeder realistische Schriftsteller eine Scheibe davon abschneiden.
Viele Ihrer Kollegen und Kolleginnen nehmen die Märchen ja ernst. Sie entdecken dann lauter Absurditäten, was weiß ich, Dornröschen schläft 100 Jahre, obwohl das eigentlich nicht geht. Oft wird der Inhalt der Märchen etwas denunziert und eliminiert.
Das ist problematisch und schade, weil damit eigentlich genau das zurückgewiesen wird, was ja insgesamt urliterarische Mittel sind. Das Mittel der Übertreibung, das Mittel der Vereinfachung. Die Vereinfachung dient ja nicht dazu, die Welt als eine einfachere darzustellen, sondern sie macht den Text deutlicher, sie vereinfacht ihn zugunsten der Erkenntnis. Ich übertreibe, um etwas sichtbar zu machen, um die Konturen zu zeigen. Natürlich geht es auch um Phantasien, auch um phantastische Überhöhungen. Wenn man sagt, da schläft jemand 100 Jahre oder 1000 Jahre, dann steckt doch dahinter der Wunsch, bestimmte physische und menschliche Ordnungen zu überschreiten, das ist ein urmenschlicher Wunsch. Das betrifft ja nicht nur den Schlaf, das betrifft auch die Überwindung von Zeit und Raum.
Im Märchen kommen die Protagonisten in Windeseile von hier bis in den Himmel, zurück vom Himmel wieder auf die Erde, dann kommt das Mädchen an ein Schloss, schließt mit seinem Finger irgendeine Tür auf, Das kommt einem alles nicht sehr plausibel vor, entspricht aber der Geschwindigkeit unserer Gedanken, der Geschwindigkeit unserer Wünsche und ist natürlich nicht mehr und nicht weniger als eine großartige Aufhebung von Zeit und Raum. Vielleicht ja auch ein Fluchttraum. Aber ich glaube, dass völlig unterschätzt wird, welche Lust und Freude es uns macht, uns im Geschwindverfahren von A nach B bewegen zu können, mit leichter Hand ganze Heere besiegen zu können. Das hat auch viel mit Großmachtphantasien zu tun, aber die sind doch im Märchen gut aufgehoben, also wo, wenn nicht da? Im Grunde haben die Märchen ja nur die Errungenschaften der Technik vorweggenommen!
Wenn man ein ganzheitliches Bild von einer Welt hat, dann gehört auch das Psychologische, das Verdrängte und Unbewusste dazu.
Da wird es mit eingefangen, und da wird ihm genau der Raum zugewiesen, der ihm auch gebührt. Märchen – auch wie man sie bereinigt und korrigiert oder moralisch aufbürstet – gehen mit allen möglichen menschlichen Ängsten um. Im Märchen sind sie aufgehoben und beheimatet und manchmal auch auf eine schockierende Weise präsent, was man vollkommen unterschätzt. Auch darin haben sie eine therapeutische Wirkung. Was auch unterschätzt wird: Es gibt Märchen, und gar nicht so wenige, die kein gutes Ende haben. Man wirft dem Märchen ja immer vor, es sei eine Schönrede des wirklichen Lebens: ‚Es war einmal?, und dann gehe ich in die Traumwelt, und am Ende heißt es: ‚Und wenn sie nicht gestorben sind‘ oder ‚und dann lebten sie lange und glücklich‘.
Davon gibt es reichlich, sie haben ein scheinbar utopisches Ende, aber es gibt auch Märchen, die enden furchtbar. Eines meiner Lieblingsmärchen, die kluge Else, ist die Geschichte von einer Frau, die der Welt nicht gewachsen ist, weil sie sich immer Sorgen macht; sie führt ein Leben im Konjunktiv, stellt sich das Unglück permanent vor, bevor es überhaupt eintritt. Das macht sie vollkommen lebensunfähig, daran scheitert sie; am Ende wird sie von ihrem Mann verstoßen. Das Märchen endet damit, dass sie diesen Ort verlässt - ‚und ward nie mehr gesehen’.
Das ist eine schauerliche Geschichte, weil es nicht nur um die Verstoßung, sondern auch um die Forderung der Gesellschaft geht, ein Mensch müsse lebenstüchtig sein, um überhaupt integriert zu sein. Das ist gesellschaftspolitisch hoch interessant. Dieses Märchen ist relativ unbekannt. Die meisten Leute kennen es nicht, ich habe es auf Lesungen gelegentlich ins Feld geführt, auch vorgelesen, und dann standen hinterher Leute auf und haben gesagt, das steht nicht bei den Grimms. Und dann habe ich gesagt: Doch, das steht bei den Grimms.
Es gibt bei den Grimms auch ein Märchen, das heißt ‚Hans mein Igel‘, da geht es eben um ein kinderloses Ehepaar, das sich ein Kind wünscht und das klappt eben nicht, und dann sagt der Mann: Ach hätten wir doch bloß ein Kind, und wär es auch bloß halb Mensch, halb Igel. Na ja und dann bekommen sie ein Kind, das ist tatsächlich halb Mensch, halb Igel. Ein behindertes Kind, und da nimmt die Geschichte ihren Lauf: Dieses Kind wird von den Eltern auf einem Strohsack in der Ecke verborgen, das Elend einer vermeintlichen Missgeburt, die nicht gezeigt werden darf. Und wenn man dann sieht, wie gesellschaftliche Realitäten funktionieren, nämlich dass das Wünschen auch schlecht ausgeht, was im Märchen ja ein riesengroßes Thema ist, dann kann man nur staunen, mit was für einem phantastischen Fundus man es zu tun hat.
Wenn man das auf so eine Hausfrauenpsychologie runter kürzen möchte, ist man, denke ich, nicht nur schlecht bedient, sondern man bringt sich um den größten Schatz, den diese Märchen bergen. Ich will das gar nicht als Modell darstellen, aber ich kann nur sagen: Wer wissen will, wie Schreiben geht, wie präzise Darstellung funktioniert, wer etwas über Kürze und Klarheit lernen will, ohne Tiefe zu verleugnen, der soll Märchen lesen.
Jetzt sind wir doch bei den Grimms, die ja viele gute Schlüsse erfunden haben und die Märchen kindgerecht machen wollten. Die Moralkiste wurde so renoviert, aber ist dabei auch große Literatur entstanden?
Ich finde, es ist große Literatur, aber das sage ich natürlich so frei heraus, weil ich auch durch meine Beschäftigung mit mittelalterlichen Stoffen, mit Sagen und Legenden mich nie so sehr um eine originäre Autorschaft im Sinn der Originalität bekümmert habe, sondern sage: Wenn jemand auf einen Stoff stößt und mit ihm auf eigene Weise umgeht, wobei gar nicht interessant ist, ob das die Grimms sind (im Mittelalter haben ja alle Autoren so gearbeitet, sie haben genommen, was da war, und haben es, nach ihrem Gutdünken, mit ihren Absichten, auch mit ideologischen Absichten, religiösen Absichten, moralischen Absichten so umgeformt, dass daraus etwas Neues entstanden ist), dann ist das ganz in Ordnung, das hat eine große Kraft und Haltbarkeit.
Darin besteht eine große Leistung der Grimms. Wie ich selber mich dann moralisch dazu verhalte, zu welchen Ergebnissen ich komme, wenn ich das zum Beispiel im europäischen Vergleich sehe, ist eine andere Frage. Das Rotkäppchen ist bei den Franzosen nun mal anders als bei den Grimms, darüber kann man diskutieren, darüber kann man sprechen, aber ich finde nicht, dass man den Grimms diese Bereinigungen, und das tut man ja gerne, vorhalten sollte; sondern man soll sie in und aus ihrer Zeit begreifen, die aus diesem Stoff gemacht hat, was sie daraus machen wollte. Die Sammelleistung ist doch unbestreitbar und unbestritten, die finde ich großartig; dass man zu anderen Ergebnissen kommt, wenn man das mit anderen Fassungen vergleicht, versteht sich von selbst.
Jetzt sind wir bei den Kindern. Die Märchen werden ja gern in die Kinderecke geschoben. Dabei wurden sie zunächst für die Wissenschaft aufgeschrieben, bevor sie kindgerecht umgeschrieben wurden.
Das ist eine gute Frage. Einerseits möchte ich als Autorin nur kurz anmerken, dass das natürlich eine traumhafte und phantastische Vorstellung ist, wenn ein wissenschaftliches Projekt nebenbei auch kommerziellen Erfolg erzielt; das finde ich natürlich wunderbar, also, dass man plötzlich merkt, dass ein Erkenntnisinteresse in etwas umschlägt, das auch populäres Interesse findet. Das ist das eine. Die andere Frage: Ja, ist das nun Kinderliteratur oder nicht?
Ich schreibe ja gelegentlich auch für Kinder und habe mich immer sehr schwer getan mit dieser Trennung. Es treibt einen natürlich auch selber ein bisschen in die Enge, wenn ich dann so höre, ach, die Frau Hoppe ist ja eigentlich eine Märchentante, ein bisschen regressiv, nach dem Motto: Die ist über die Märchen nie hinausgekommen …
Kinderliteratur ist für mich eine Literatur für alle und jeden. Das sieht man schon daran, dass viele Erwachsene die Märchen gar nicht verstehen. Sie sind ja in mancher Hinsicht vielleicht schwieriger zu verstehen, als manch kompliziert angelegter ambitionierter literarische Text. Also Kinderliteratur im allerbesten Sinne, und zwar einfach deshalb, weil das Märchen die Realität zwar ins Phantastische treibt, aber sie nicht verkindlicht. Das heißt, wenn ich heute ein Grimmsches Märchen nehme und das vergleiche mit so manchem (es gibt mittlerweile Gott sei Dank phantastische gegenwärtige Kinderliteratur), dann würde ich sagen, das Märchen geht weit über das hinaus, was man in der traditionellen didaktischen Kinderliteratur vorfindet, die bewusstseins- und gesellschaftsbildend sein soll.
Dagegen warten die Grimms doch mit einigen erstaunlichen Härten auf, von denen man heute glaubt, man könne sie Kindern nicht zumuten. Ich glaube, man kann es, und man soll es, und das hat mit dem Verfahren zu tun. Es gibt zwar viel Gewalt in den Märchen, aber was die Märchen von anderer Literatur, die Gewalt geradezu ausstellt, stark unterscheidet, ist, dass hier die Gewalt gewissermaßen formalisiert ist. Sie wird nicht ausgewalzt, sondern hat etwas Slapstickhaftes: Dann schlug er dem Riesen den Kopf ab, oder der Riese schlug ihm den Kopf ab, dann kamen drei Hasen, sprachen einen Zauberspruch und setzten ihm den Kopf wieder auf.
Das heißt: Der Vorgang ist entsetzlich, aber der Umgang und die Darstellung sind spielerisch und ermöglichen einen ebenso spielerischen Umgang mit der Angst und damit auch die Vorstellung, dass der Tod nicht das letzte ist; anders gesagt, und was ich immer schon großartig fand, auch als Kind: dass man jemanden seinen Kopf eben auch wieder aufsetzen kann. Ihn also wieder zum Leben erwecken. Wovon wir genau wissen, realiter geht das nicht, aber als Trostverheißung ist das grandios.
Mein Credo ist ja, man guckt, wie weit man kommt. Es gibt natürlich auch Kinder, die weisen die Märchen zurück, die kriegen Angst, denen drängt man es nicht auf, und dann hört man auf zu lesen. Kinder sind sehr selbstbewusste Zuhörer, und wenn sie einen Stoff nicht mögen und das signalisieren, soll der Vorleser eben einfach aufhören. Und dann gibt’s Kinder, die können gar nicht genug kriegen. Je mehr Köpfe fallen, desto besser. Das heißt ja, dass es in ihnen etwas berührt, mit Ängsten umgeht, mit Gewaltphantasien, die sie selber bewältigen müssen, und ich meine, (darüber wird ja viel diskutiert), Kinder brauchen Märchen; und ich glaube, dass das in der Mehrheit der Fälle ganz gut funktioniert.
Aber sind Märchen nicht auch sehr gewalttätig?
Ich glaube, man kann Kinder vor Gewalt, besser gesagt, vor der Tatsache, dass Gewalt existiert, nicht auf Dauer bewahren. Gewalt ist allgegenwärtig, in unseren übergeschützten Gesellschaft vielleicht weniger, nicht, aber um uns herum - wir leben ja in einer unglaublich winzigen befriedeten Welt, fast illusionär. Natürlich können wir die Gewalt nicht aus der Welt schaffen, in dem wir sie „märchenhaft“ erzählen, aber indem wir von ihr erzählen, versuchen wir ja auch, sie zu bannen, sie irgendwie dingfest zu machen, sie zu überwinden, gerade indem wir Umgang mit ihr pflegen. können. Die Comics machen das ja nach und vor: Jemand fällt aus dem zehnten Stock und geht in dem nächsten Bild mit einem Pflaster auf der Stirn weiter. Das hat mich als Kind beglückt, und es begeistert mich bis heute. Also für mich gibt es nichts Tröstlicheres als die Vorstellung, dass ich, wenn ich aus dem zehnten Stock falle, mit einem Pflaster auf der Stirn im nächsten Bild wieder auftauche. Ich weiß, dass das nicht realistisch ist, ich weiß, dass ich zerschelle, aber als Lebensbewältigung, als Nahrungsmittel und so sehe ich diese Geschichten, ist das doch wunderbar. Es ist Trost, und Trost ist nicht Beschönigung, Trost ist Bewältigung, ein Werkzeug.
Und das haben wir den Grimms zu verdanken, bei allen Vorbehalten. Ein Hauptargument gegen die Märchen sind natürlich diese unglaublich rigiden Bestrafungssysteme. Und natürlich die Geschlechterrollen - die böse Schwiegermutter, die ja im Original oft eine böse Mutter war; man wollte aber eine gute Mutter, also musste man mit der Schwiegermutter agieren. Aber im Grunde genommen geht es wohl darum, dass im Märchen ersatzweise ein Gerechtigkeitsempfinden befriedigt wird, natürlich auch Gewalt- und Bestrafungsphantasien. In einer ordentlichen Demokratie wird man natürlich die Schwiegermutter sich nicht in glühenden Pantoffeln zu Tode tanzen lassen. Darum geht es ja auch nicht, sondern dass der Böse mal richtig auf die Nase kriegt.
Was hingegen bestimmte Rollenmuster im Märchen betrifft – naja, über die denkt man als Frau natürlich schon zweimal nach, aber das ist noch einmal ein ganz anderes Thema.
Mir ist aufgefallen, dass Sie dem Personal der Märchen mit unglaublich viel Sympathie entgegenkommen und die Personen auch in Schutz nehmen. Also Rumpelstilzchen ist nicht so schlimm, wie man oft meint. Und auch die Gegenstände haben etwas Lebendiges.
Das ist eben interessant. Genau - was ist mit den Requisiten? Und wie beschäftigen uns die Dinge? Es ist, letztes Jahr, glaube ich, ein Buch erschienen, „Das verzehrende Leben der Dinge“, von Wolfgang Schivelbusch, in dem sehr schön die Rede davon ist, dass die Dinge ja in der Regel länger da sind als wir und überhaupt sehr bestimmend – die Welt als belebte Dingwelt wahrzunehmen, finde ich interessant; im Märchen können Requisiten Protagonisten sein!
Es gibt in Märchen unzählige Figuren, die man ja eigentlich zu den Entrechteten und Verfemten zählen muss, die natürlich schon allein von ihrer physischen Präsenz her nicht besonders liebenswert dargestellt werden. Also, die sind hässlich, die sind bucklig, das sind Zwerge, das sind Hexen, die unterwegs sind in einem Geschäft, das undurchsichtig ist. Und da ist es immer ganz leicht zu sagen: Aha, die Guten und die Bösen! Und ich glaube, wenn man eine bestimmte Lesart zulässt, also sich eben nicht sofort immer auf die eine oder andere Seite schlägt, merkt man schnell, dass die ein größeres Potential haben. Man könnte auch sagen: Es sind die Erniedrigten und die Beleidigten.
Das Rumpelstilzchen beispielsweise ist für mich eine betrogene Figur. Vielleicht ist das von den Grimms nicht so angelegt, aber ich behaupte: Bei einem zweiten oder dritten Lesen lassen die Märchen eine Lesart zu, die für uns neu und ergiebig ist. Man muss das natürlich wollen, man muss das versuchen. Diese neue Lesart entsteht übrigens nicht dadurch, dass ich die Märchen umschreibe: Ich könnte ja sagen, ich schreibe einen Rumpelstilzchen-Roman und dann bausch ich das auf und sage, ich habe hier eine arme Missgeburt, der ist allein, der ist hässlich, der kann keine Kinder haben, der haust da im Wald, und dann will er ein Geschäft abschließen und so weiter. Der muss einem doch leid tun, den muss man verstehen.
Bei mir geht die Empathie für das Rumpelstilzchen auf ein Leseerlebnis meiner Kindheit zurück, eine Erinnerung daran, wie ich als Kind nach der Lektüre als Kind immer versucht habe, mir vorzustellen, wie das wohl gehen könnte, dass sich jemand selbst zerreißt, in zwei Hälften. Ja, ich weiß noch genau, wie ich dastand in einer Strumpfhose und es immer wieder versuchte. Ich war kein supersportliches Kind, und leicht ist das nicht: das eine Bein so hoch und das andere Bein in den Boden stoßen und mit dem Arm nach dem freien Bein greifen und sich entzwei reißen. Wie das gehen soll? Das hat mich unendlich beschäftigt, diese tiefe Verzweiflung, eine Selbstentleibung, genauso unmöglich, wie sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen, gymnastisch völlig überbeansprucht, da kann ich ja nicht einfach sagen: Geschieht ihm recht, er war eben böse! Sondern: Das Rumpelstilzchen hat wirklich ein – naja, Problem wäre banal, das ist ja ein Abgrund.
Das hängt natürlich auch mit der Sensibilität der Leserin zusammen und gar nicht so sehr am Text. Aber der Text hat das Potential. Ich kann nicht sagen, die Märchen lehren uns keine Empathie, aber vielleicht ist es besser zu sagen, die Empathie lehren uns die, die uns das vorlesen, oder wir selber. Wenn man ein sensibler Mensch ist, stößt man auf viele Figuren dieser Art in den Grimmschen Märchen und empfindet mehr Mitleid als Häme. Ich habe nie Häme empfunden. Und ich war auch eigentlich nie zutiefst befriedigt, wenn jemand zu Tode kam.
Die Erfolgsgeschichte der Märchen hat ja auch etwas mit dem Erzählen zu tun. Die Märchen werden nicht nur vorgelesen, sondern häufig anhand der vorhandenen Bilder und Illustrationen erzählt und damit entsprechend auch variiert.
Im Prinzip sind die Grimmschen Märchen ja festgeschrieben – aber sie verändern sich trotzdem. Wenn ich Märchen mündlich nacherzähle, trifft das völlig anders auf, als wenn ich ein Märchen nur vorlese; da kommt meine Auswahl dazu, meine Hinzufügungen oder Auslassungen, dass ich plötzlich sage, ich weiß es nicht genau, ob das Rumpelstilzchen sich wirklich zerreißt; natürlich manipuliere ich durch die Erzählung, aber selbst wenn ich ein Leser bin, der allein ist mit dem Buch und dem Text, verändert sich die Lektüre ja ständig. Und das trifft ja auf alle Bücher zu. Das heißt, ich lese sie jetzt 20 Jahre später, ganz anders. Und wenn ich mich frage, wann habe ich die Märchen das erste Mal gehört, dann weiß ich oft gar nicht mehr, ob ich sie damals gehört oder gelesen habe.
Es ändert sich die Rezeption ja stets und ständig. Und deshalb sind auch diese Umschreibungen als neue Festschreibungsversuche manchmal so lächerlich. Ich glaube überhaupt, dass die Verschriftlichung das eine ist, das andere ist ihre Interpretation; wir haben einen Riesenapparat von Auslegern, von Interpretationen, aber Texte, ob mündlich oder schriftlich, und das ist das Tolle an Literatur, und da sind die Märchen das beste Vorbild, Literatur entzieht sich im Letzten eben doch der Kontrolle.
Und ich als Autorin weiß das sehr gut und muss immer über Kollegen und Kolleginnen lachen, die sich immer darüber beschweren, dass Leute ihre Texte angeblich falsch auslegen. Also, wer Kontrolle haben möchte, sollte keine Texte publizieren. In dem Moment, da ich einen Text publiziere, ist er eigentlich auf so schöne wie erschreckende Weise vogelfrei, ich weiß überhaupt nicht, was damit passiert. Und deshalb ist es auch zweifelhaft, immer darüber zu sprechen, wie die Märchen nun wirken. Wie sie bei Menschen unterschiedlich auftreffen, wissen wir nicht.
Dass sie Klischees befördern und weiter überliefern, alles schön und gut, aber ich glaube, die Erzähltradition, die in diesen Märchen enthalten ist, bei einer scheinbar ganz starren Formalität, beschert den Märchen selber eine unglaubliche Freiheit. Wir ja glauben, Formeln würden verkürzen. Aber ich glaube, dass in so einem kurzen Märchen über zwei drei Seiten so ein gigantischer Kosmos enthalten ist, der manchmal über einen 800 Seiten Roman hinausgeht.
Ich will das überhaupt nicht gegeneinander ausspielen, und das sage ich wahrscheinlich auch nur, weil ich selber keine 800 Seitenromane kann. Aber mich hat diese Form immer überzeugt in ihrer Gebundenheit und zugleich in ihrer unendlichen Freiheit und Offenheit. Das finde ich grandios.
So haben Sie ja auch in Beziehung zur Religion argumentiert.
Die Formelhaftigkeit der Märchen hat natürlich etwas Ritualisiertes, aber ich glaube, daher rührt auch, dass man diese Märchen, bei aller Beschränkung, die das mit sich bringt, immer wieder lesen kann: Immer wenn ich trübe bin oder schlechte Laune habe oder das Gefühl, ich kann etwas nicht bewältigen, lese ich einen Text, der alt ist, also etwas, was scheinbar ganz weit weg liegt. Das schafft Distanz. Und wenn ich jetzt ein Märchen lese, dann ist es oft so, dass ich denke (ich denke das natürlich nicht, sondern ich empfinde das beim Lesen!), dass mich das befreit. Und dass mich das wieder erdet; und das hat etwas mit der formalen Einfachheit zu tun, mit der Wiederholung und natürlich mit einer ganz simplen Sache, und da sind Sie bei der Religion:
Es liegt natürlich eine Beruhigung in der Formelhaftigkeit, dass man kurzfristig glaubt, in diesem Chaos, das wir niemals durchdringen werden, gäbe es einen Pfad, den man beschreiten kann. Da ist das Märchen natürlich nah an der religiösen Formel, und das wiederum hängt damit zusammen, dass es entpersonalisiert ist. Es gibt kein Märchen in der Ich-Form. Es gibt keine Ich-Märchen. Das heißt, das Ich in seiner ganzen Not, in seinem Wunsch der Selbstdarstellung, ist völlig ausgeblendet.
Das habe ich auch in Schreibwerkstätten getestet: Wenn man ein Märchen in der Ich-Form nacherzählen lässt, ist der ganze Märchencharakter weg, da kommen auch tolle, aber ganz andere Texte dabei raus. Wenn die Kluge Else zum Beispiel in der Ich-Form erzählt wird, habe ich ein Psychogramm. Wenn ich sie als Märchen erzählt bekomme, ist das eine schreckliche Geschichte, aber sie ist von mir abgerückt.
Geben wir mal ein simples Beispiel: Es ist ein großer Unterschied, ob Sie am Grab eines Toten ein Vaterunser beten oder ob Sie am Grab des Toten jemanden haben, der ganz persönlich über dessen Leben erzählt. Das sind sehr unterschiedliche Arten, überhaupt einem Menschen zu begegnen. Und ich denke, es gibt Situationen, wo man im Ritual besser aufgehoben ist als in der sogenannten persönlichen Rede, weil sie einen davon befreit, auf kleinteilige Weise ständig über sich selbst zu sprechen. Man speist sich selber in einen bestehenden Strom des Geschehens ein, man wird Teil davon. Das kann uns passen oder nicht passen, und in einer Gesellschaft, die sehr stark individualisiert ist und sich nur im Ich denken kann, ist das, glaube ich, eher nicht gewünscht, wobei das vermeintlich individuelle Sprechen in unserer Gesellschaft ja inzwischen selbst höchst formalisiert ist. Auch das sind ja Formeln, mit denen man spricht, und auch das ist Indoktrination.
Vielen Dank für das Gespräch.
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