Silvia Bovenschen ist am 25. Oktober 2017 gestorben. Im Gedenken an eine wunderbare Autorin kommt Siliva Bovenschen hier noch einmal selbst zu Wort. Das Interview von 2001 ist von überraschender Aktualität. Es wurde von Silvia Bovenschen 2017 autorisiert.
Bilder von Flüchtlingen, die eine neue Heimat suchen, und Bilder von Fremdenhass begegnen uns Tag für Tag. Im Zusammenhang mit einem Radiofeature über Heimat habe ich 2001 die Kulturwissenschaftlerin und Schriftstellerin Silvia Bovenschen befragt. Ein Interview, das plötzlich wieder ganz aktuell geworden ist. Ohne zu psychologisieren, beschreibt Silvia Bovenschen, wie Vorurteile entstehen und wie wir alle gefährdet sind, unseren kleinen, manchmal unfreundlichen Regungen (Idiosynkrasien) nachzugeben, um unsere Ängste zu besänftigen oder um uns an Schwächeren schadlos zu halten.
Als Kind haben Sie das Heidi von Johanna Spyri nicht sonderlich leiden können?
Nein, ich habe das nicht gemocht. Also, es war sicher nicht das erste Buch, was ich gelesen habe, aber es war eines der frühen Bücher, die mir meine Eltern, die wollten, dass ich lese, was ja damals, es gab ja kaum etwas anderes zu tun, es gab noch kein Fernsehen, also las man. Und dann hab‘ ich dieses Heidi, ich habe das nicht gemocht. Schon ‚das Heidi‘ fand ich furchtbar, dieses sächliche, und dass es immer so wacker und immer so gut war, und meine Umgebung war offensichtlich der Meinung, und ich selber auch, dass ich nicht immer gut war. Dieses wackere, unverdrossene immer gut Seiende und dann, der Tropfen am Eimer war glaube ich, dass es die Stadt nicht mochte. Ich meinerseits war froh, dass ich in einer Stadt war, und das Heidi hat unter der Stadt schrecklich gelitten, heimwehkrank, und dann ist es auf den Frankfurter Dom gestiegen und wollte von da aus die Berge sehen, da wusste ich natürlich, dass das nicht geht. Also ungerecht, furchtbar ungerecht, und deshalb mir erinnerlich, weil ich wahrscheinlich nicht nur das Heidi nicht mochte, sondern auch gleichzeitig ein schlechtes Gewissen hatte, dass ich das Heidi nicht mochte.
Das ist ja interessant, dass es diese Ambivalenz bei ihrer Idiosynkrasie gibt. Man muss offensichtlich einen Widerspruch aushalten.
Das kennen wir ja alle: Wir begegnen jemandem und können ihn sofort nicht leiden. Nun kann das sein, dass da eine Lebenserfahrung mitschwingt, dass irgendwelche kleinen Indikatoren an seinem Verhalten, wie er ein Kind behandelt, wie er irgendwas macht, die uns berechtigterweise irgendwie warnen. Es kann aber auch sein, dass er plötzlich eine ähnliche Nase wie Tante Ida hat, und die mochten wir halt aus ganz anderen Gründen nicht leiden. Und jeder, der ein gut eintrainiertes Gewissen hat, wird vor sich selbst sich so ein bisschen schämen dafür, dass er jemanden einfach nicht leiden kann. Und ich finde es nicht problematisch, Leute nicht leiden zu können: Mir ist eigentlich dann im Verlaufe der Zeit klargeworden, dass das Problematische erst dann einsetzt, wenn wir versuchen, uns Gründe zusammenzusuchen. Also, wenn wir unsere Abneigung versuchen, vor uns selbst zu rechtfertigen. Und Gründe können Sie bei jedem finden, also irgendwelche moralische, kleine schwarze Flecken, oder irgendeine kleine intellektuelle Dummheit oder so. Also das finden Sie immer, und das ist das Problematische an diesen spontanen Abneigungen.
Also, diese Rationalisierungen, dass man aus einer Mücke einen Elefanten macht, dass man aus einem primitiven Reflex ein begründetes Urteil versucht zu basteln.
Ich habe natürlich solche Sachen gesammelt, also wenn denn Paul Valéry sagt, das wahre Portrait von jemandem bestünde darin, dass man seine Ab- und Zuneigungen sammelt, und auch bei Roland Barthes gibt es solche Stellen, und bei Deleuze gibt es Passagen, die darauf hindeuten. Aber ich denke doch, dass es weniger in dem Sinne zu verstehen ist, und ich würde es selbst auch nicht in dem Sinne verstehen, dass daraus sozusagen eine Theorie der Subjektivität oder einer irgendwie substanziellen Individualität gebastelt werden kann. Was es wohl eher ist, ist eine Differenzerfahrung. Also, man erfährt plötzlich schockhaft, dass man sich von anderen unterscheidet. Eher also sozusagen im Negativen, also, ich erfahre darin die Differenz zu anderen Menschen. Spätestens, wenn man jemanden liebt, und stellt plötzlich fest, dass der die gleiche Lieblingsspeise überhaupt nicht mag, dann ist man ja so ein bisschen erschüttert. Ja oder wenn er den Film, den man am meisten liebt, nicht mag, hat man ein Problem. Ja, mehr in diesem Sinne, dass man da solche Differenzerfahrung zu anderen und sogar zu sich selbst, denn es gibt ja Idiosynkrasien, also heftige Aversionen alltäglicher Art, die man selber nicht versteht, ja wo man sich selber ein bisschen unheimlich ist.
Das ist aber ein Affekt? Wenn man darüber nachdenkt, wird es schnell etwas Anderes.
Im Zuge der Versprachlichung kann es natürlich sehr schnell ins Vorurteil oder ins Ressentiment oder in Regeldoktrinen oder in irgend so was verfestigen. Ich denke, verfestigte Idiosynkrasien sind wirklich sehr gefährlich. Verdeckte haben vielleicht, also das vielleicht möchte ich gerne noch unterstreichen, etwas Seismographisches manchmal. In der Kunst, wo man auch oft nicht sagen kann, warum ein bestimmter Ton einfach nicht mehr geht, oder warum ein bestimmtes Wort einfach ekelhaft ist, das hängt natürlich mit dem Gebrauchszusammenhängen zusammen. Aber wenn man das immer versucht, rational zu ergründen, käme man auf keinen grünen Zweig. Ich glaube, die Künstler leben schon in sehr hohem Maße von solchen kleinen Impulsen und Regungen der Aversion und des Hingezogenseins.
Aber für Künstler ist es ja dann Material, und wahrscheinlich sogar ein notwendiges Material, um sich ausdrücken zu können. Lässt sich dieses Material jenseits der Kunst noch anders bearbeiten, oder landet man dann notwendigerweise in Ressentiment?
Das weiß ich nicht. Ich meine, wenn ich entscheide, ob ich dieses Wort nehme oder ein anderes, und das sozusagen permanent entscheide, dann ist das eine Bearbeitung, ja, die einen ästhetischen Prozess steuert, diese Farbe oder jene, oder den Strich so mache oder so. Die alltägliche Bearbeitung, da hängt es davon ab, ob ich genügend Selbstmisstrauen mir erhalte. Ich denke schon, dass das Spiel mit diesen Impulsen oder die Bedeutung dieser Impulse heute wirklich zunimmt. Wenn Sie sich so was wie Big Brother ansehen, da sitzen die Leute in diesem Haus, die leisten ja nichts und entscheiden permanent, ob sie sich mögen oder nicht mögen. Das Publikum entscheidet mit, und zwar nicht nach Maßgabe dessen, was die da leisten, sondern ihres bloßen Seins oder Soseins wegen, finden die die ekelhaft oder nicht ekelhaft, und das wird auch permanent reflektiert. Ununterbrochen wird das rationalisiert und in plumpste Vorurteile überführt. Neulich, ich sehe das nicht häufig, aber neulich habe ich so eine – ich sag das nicht als Rechtfertigung, es würde mir auch nichts ausmachen zu sagen, dass ich es immer sehe, aber man kommt ja nicht dazu – also neulich habe ich das jedenfalls mal gesehen, und da wurde jemand rausgewählt, und da war ein Argument, dass der zuviel nachdenkt. War absolut plausibel allen Anderen als Ekelargument. (Lachen) Also ich glaube schon, dass das auch so, der Begriff der Idiosynkrasie, der ja sehr lange medizinisch für das stand, was wir heute unter Allergie verstehen, und dann im 20. Jahrhundert ausgebürgert wurde aus der medizinischen Nomenklatur. Und jetzt plötzlich erfährt der Allergiebegriff genau das gleiche wieder, das heißt, der Allergiebegriff wird übertragen in den Alltag, in die Alltagssprache.
Die Leute sagen zunehmend, ich vertrage den nicht, ich reagiere allergisch auf den. Das spielt beispielsweise auch in der Kommunikation in diesem komischen Haus eine Rolle. Die müssen ja immer begründen, warum sie Leute da rausschmeißen, dann sagen sie: Ich kann einfach nicht mit dem, das ist nicht die gleiche Chemie, ich reagiere allergisch und so weiter. Und das scheint irgendwie, in dieser unübersichtlichen Welt, in dieser chaotischen, unübersichtlichen Welt, in der wir leben, scheint das eine immer größere Rolle zu spielen, also dass Leute andere angucken und dann auf Grund des Pullovers und der Handhaltung entscheiden, dass sie mit dem nichts zu tun haben wollen.
Das ist so eine Klammer: Einerseits ist es unglaublich primitiv, es hat ja fast was Archaisches. Andererseits ist es hochdifferenziert. Also es reagiert natürlich auf ganz hochzivilisatorische Merkmale, und ich denke, das ist ein Moment, was daran auch reizvoll ist: dass sozusagen gleichzeitig eine ganz archaische Kombinatorik von körperlichen und seelischen, auch kognitiven – es gibt ja auch einen geistigen Ekel –, kognitiven Impulsen, der aber sich sozusagen zunächst einmal archaisch äußern. Also, die klassischen Idiosynkrasien die sind so: Die Kreide quietscht auf der Schultafel, und mir sträuben sich die Nackenhaare. Das ist sozusagen die primitive Grundierung, die kann man aber auch haben, wenn jemand ein ekliges Wort benutzt oder so.
Und diese Frage, ob dieses Wort eklig ist, ist nicht zeitunabhängig, sondern bestimmte Wörter werden zu bestimmten Zeiten auf Grund der Gebrauchszusammenhänge einfach, kann man nicht mehr so ohne weiteres dulden. Insofern ist es eine Kombinatorik aus ganz hochdifferenzierten kulturell konnotierten Elementen und archaischen.
Das hat mich auch interessiert. Also sozusagen das grelle Entsetzen, die furchtbare Angst, da bin ich auch außer mir, aber da kann ich das zurückführen, das ist ganz klar, das ist eklig, was ich da sehe, das ist entsetzlich. Oder die Furcht: Da habe ich Angst, ja, aber diese kleinen Alltagsirritationen, wo ich auch nicht weiß, warum ich das eigentlich nicht mag. Das kann ein Kindheitstrauma sein, das kann irgendwas sein, was meinem Gedächtnis gar nicht mehr zugänglich ist. In dem Moment ist man vor sich selbst irritiert, wird man sich selbst ein bisschen fremd. Und das ist sozusagen vielleicht das Fruchtbare daran. Das Fruchtbare, gleichzeitig auch Irritierende, das Beängstigende daran, aber dass man so ein bisschen aus dem Ruder läuft.
Also jetzt stelle ich mir Heidi vor, wie sie auf dem Kirchturm in Frankfurt steht, und völlig entsetzt ist, dass da keine Berge mehr sind.
Ich würde sagen, meine Lektüre ‚Heidi‘, das war eine Idiosynkrasie oder so eine Empfindlichkeit, dass ich die nicht mochte. Das, was die Autorin beim Heidi beschreibt, das ist schon etwas anderes, das ist schon fast ein Krankheitsmerkmal, das ist diese Erfahrung dieser Fremde, aber einer anhaltenden Fremde, das ist nicht eine kurze Irritation, sondern die will da nicht sein, die will zurück in ihre Berge, die will zurück in die Ordnung ihrer Berge und mag diese Stadt nicht. Die mag sie auch nicht, wenn sie vom Dom wieder runtersteigt, und die mag sie auch nach zehn Tagen, nach weiteren zehn Tagen bei der grundgütigen Klara nicht, und ihrem grundgütigen Vater und dieser komischen Gouvernante, dann mag sie die immer noch nicht. Das ist kein Impuls, sondern das ist bleibend, eine wirkliche Gefahr oder irgendwelche Beschädigung beim Heidi.
Wenn wir so einen kurzen Ekelanfall haben, also so eine kleine Idiosynkrasie, dann erfahren wir so Fremdheit, und es geht vorüber. Wenn das anhält, dann setzen ja Reparaturbetriebe ein, dann werde ich versuchen, diese Ambivalenz natürlich aufzulösen. Entweder indem ich mir einrede, dass ich da, wo ich herkomme, ganz war und jetzt nur noch halb bin, und dann muss ich natürlich – je mehr ich mich da reinsteigere – sehen, dass ich da wieder hinkomme, sonst erlebe ich dann wirklich einen psychotischen Zustand, und das ist, glaube ich, dieses Heimwehsyndrom, was da bei der Heidi so ein bisschen beschrieben wird. Die kommt wirklich erst wieder zu sich, wenn sie dann wieder in ihren Bergen ist, da ist sie wieder ganz.
Es gibt ja auch den Versuch, solche Ressentiments öffentlich zu befördern. Sind diese Idiosynkrasien überhaupt verallgemeinerbar?
Das sind die Idiosynkrasien, die bereits sozusagen kommuniziert sind, in ein allgemeines Vorurteil überführt werden. In dem Moment sind sie aber keine Idiosynkrasien mehr. Das ist wirklich ein Problem, wenn jetzt Leute sagen, beispielsweise, ich mag keine Türken, dann ist das natürlich schon so etwas wie eine verallgemeinerte Abneigung. Aber dieser erste Impuls, die kommen irgendwo rein, da riecht es meinetwegen nach Hammelfett und Knoblauch, und sie mögen das nicht, ja und dann geht man hin und sagt, wenn du das nicht magst, bist du ein Schwein. Es scheint mir etwas problematisch. Also ich glaube nicht, dass dieser erste Impuls an sich das Schlimme ist, sondern der Zwang, unter dem die Leute stehen, diesen Impuls zu rechtfertigen. In dem Moment, wo man sagt, ich, also ich mag diesen Geruch nicht, und ich mag diesen Geruch nicht, weil dies ist der Geruch der Türken, und ich mag die Türken nicht, weil sie sind keine guten Menschen wie wir. Dann ist sozusagen die Überführung dieses ersten Impulses in ein Vorurteil oder ein Ressentiment – was schlimme Folgen haben kann, wie wir alle wissen – gelaufen. Aber ich glaube, man beschleunigt diese Überführung im hohen Maße, wenn man den Leuten sagt, du musst immer alles mögen. Kein Mensch kann alles mögen, kein Mensch kann alles Fremde mögen, da sind wir alle überfordert. Wenn ich sehr reich bin und in guten Hotels in asiatischen Ländern absteige, dann kann ich das alles pittoresk und nett finden. Wenn mich aber das Schicksal da plötzlich hinschleudert, dann werde ich mich bedroht sehen, weil ich mich nicht auskenne, weil die Gerüche anders sind, die Stimmen anders sind und die Handbewegungen anders sind. Und dann habe ich vielleicht gute und sogleich archaische Gründe, da Angst zu haben.
Andererseits ist es ja inzwischen schon wieder so weit, dass also ganze Fernsehserien von dem Verstoß gegen die Political Correctness leben, wobei kaum noch jemand korrekt ist. Also, alle machen schon wieder Polenwitze oder so, ja, weil es eine Zeitlang so ein Druck war, da gibt es sofort diese Entlastungsfunktion, dass man heimlich sich doch so einen Witz erzählt und sich dadurch vom Gutsein ein bisschen entlastet. Also es gibt beides. Es gibt sozusagen diese verordnete Korrektheit, aber es gibt inzwischen auch schon wieder so ein allgemeines Verständnis, über den Verstoß dieser Correctness, was auch schon halt wieder ins Schunkeln übergegangen ist.“
Idiosynkrasien gibt es also, aber man sollte keine falschen Schlüsse daraus ziehen?
Die gibt es, und die sind in Ordnung oder sie sind nicht in Ordnung. Aber es ist so, als wenn Sie mit jemanden vor einem Bild stehen und der eine sagt zum anderen: Findest du dieses Bild schön? Und der sagt: Ja. Und dann sagt der erste wieder: Falsch! Das geht ja auch irgendwie nicht. Er darf es ja erst einmal irgendwie finden. Wenn man dann darüber redet, dann sollte man eigentlich Argumente haben, aber dieser erste Impuls, der ist weder falsch noch richtig, der ist einfach nur er selbst.
Bei dem Philosophen Immanuel Kant gibt es das Motiv auch, da ist es aber so, wenn beide den gleichen Geschmack haben, dann sind sie auch politisch einer Meinung.
Sie können ja nicht sagen: falsch. Er hat ja zunächst mal diese Empfindung. Dann kann man darüber reden. Will sagen, das ist ja absurd, wenn Leute aus ideologischen Gründen immerzu Knoblauch essen, ja obwohl sie es gar nicht mögen eigentlich, das ist ja auch idiotisch. Die darf ich ja zunächst mal haben, nur ich darf deshalb niemanden erschlagen oder wehtun oder verletzen.
Lassen Sie uns noch etwas über das Buch „Heimat und Verbrechen“ von Karl Jaspers sprechen. Er beschreibt ja in seiner Dissertation, wie im 19. Jahrhundert kleine Jungen und Mädchen aus Heimweh zu Verbrechern werden.
Mich hat das frappiert, weil der Jaspers ja nun seinerseits auf eine medizinische Literatur zurückgreifen konnte, die ernsthaft das als ein Krankheitsbild, diese Heimwehgeschichten, diskutiert. Und das hat mich schon fasziniert, auch mit diesen ganzen Krankheitsgeschichten von diesen armen Mädchen, die da plötzlich entwurzelt irgendwo als Dienstmagd landen und zunächst funktionieren und dann – wie wir heute sagen würden – durchknallen. Und ich meine auf der anderen Seite, ich kann mir das vorstellen, ich meine jetzt nicht im Sinne von Heimat und der heilen Heimat und der Geschlossenheit der Welt, die war sicher auch bei solchen Bergbauern alles andere als nur idyllisch. Aber wenn ein Mädchen in der Pubertät – in diesem Alter, wo man sowieso nicht genau weiß, wer man ist – da plötzlich in eine Stadt oder in ein ganz anderes Terrain geschleudert wird, dass man das psychisch nicht so ganz verkraftet, scheint mir absolut plausibel. Aber gut finde ich dann wieder auch zu lesen, wie das dann geschildert ist, wie die dann so furchtbare Sachen machen, diese schmalen Augen oder Lippen kriegen und dann jemanden erdrosseln oder so, dass hat ja schon so was von so einem Bänkellied, so moritatenhaft ist das auch, das hat mir gut gefallen.
Es gibt dann ja auch diese Analogie zur Allergie. Wer doch schön, wenn man beispielsweise sagen könnte: Ein Rechtsradikaler ist so etwas wie ein Allergiker.
Also wenn es dann gleich die Salbe gäbe, die man denen drauf auf die Birne schmieren könnte, und dann wär’s gut – dann wär’s ja alles in Ordnung. Aber natürlich ist es mit der Übertragung mit solchen medizinischen Indikationen auf soziale Verhaltensweisen immer ein bisschen problematisch, und das sollte man dann vielleicht auch nicht zu weit treiben. Vor allen wenn ich dann tatsächlich so analogisierend spräche und dann anfinge, das darüber zu rechtfertigen. Mir hat das auch irgendjemand erzählt, ich kriege das aber nicht ganz zusammen, dass er tatsächlich jemanden gesprochen hat, der gesagt hat, ich kann ja nichts dafür, ich kann die halt nicht, ich bin halt allergisch gegen die Türken oder so. In dem Moment, wo das schon in die Rechtfertigung überführt wird, würde ich das nicht mehr gelten lassen, denn dann ist das ja wirklich schon wieder eine Rationalisierung oder so eine Verallgemeinerung, dann bin ich nicht mehr unschuldig sozusagen, dann habe ich das als Rechtfertigung für meine übelsten Impulse herangerufen.“
Ab wann wird es denn gefährlich?
Weil ja nun am Anfang alle gesagt haben, das sind nun keine Nazis, das sind nur irgendwelche depravierten Leute, die haben keine Arbeit und so, und das stimmt ja auch wahrscheinlich. Und dann habe ich mich aber gefragt, ob diese ganzen SA-Leute damals eigentlich Nazis waren, die waren ja auch nicht in der Napola, die waren genauso frustriert, und haben dann eben andere Leute erschossen. Und ich denke mir, das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, ob ich ihn nun als Nazi definiere, oder ab wann jemand ein Bewusstsein haben muss von einer faschistischen oder nationalsozialistischen Ideologie und dann Nazi ist, sondern der Punkt ist, ob er für seine trüben Impulse Angebote kriegt, symbolische Versatzstücke angeboten kriegt und Feindbilder angeboten kriegt, dann beginnt der Terror, und das ist vollkommen egal, ob ich die dann Nazi nenne oder irgendwie anders, oder ob sie einfach brutale Skinheads bleiben. In dem Moment, wo sie Leuten was tun, sind sie gefährlich, und in dem Moment, wo sie kollektive Angebote zur Interpretation ihrer kleinen Impulse da kriegen, denn die haben sie ja. Sie haben ja natürlich irgendwelche Frustimpulse. Und irgendwie frustriert sind die auf jeden Fall, sonst macht man ja so was nicht.
Es ist ja ein Problem, wenn dann noch einmal jemand nachkarrt, dass dann symbolisch noch einmal etwas bewältigt wird, was eigentlich schon gar kein gesellschaftliches Problem mehr ist.
Dreißig Jahre war es unglaublich einfach, ein guter Mensch zu sein. Man war da und dagegen und ich meine, dass hat natürlich auch Auswirkungen. Wenn ich mir heute überlege, wenn ich heute 17 wäre, ich kenne mich da in der Jugendkultur nicht mehr besonders aus, aber ich glaube nicht, dass mich Herbert Grönemeyer oder Udo Lindenberg bei ‚Rock gegen Rechts’ vom Stuhl reißen würde. Da würde mich wahrscheinlich so eine Brutalo-Band, die irgendwas Verbotenes singt, auch mehr reizen. Ich will das nicht rechtfertigen, aber ich sehe in diesen Maßnahmen und Verboten, da sehe ich doch relativ hilflose Reaktionen. Und ich habe kürzlich einen französischen Film gesehen, wo Jugendliche gezeigt wurden. Jetzt nicht, wie sie Demonstrationen machen oder irgendwelche Rentner zusammenschlagen, sondern wie sie ihre Feste gestalten. Und das fand ich eigentlich sehr interessant, weil in irgendwelchen Kellern, hauptsächlich Männer – Frauen spielen da kaum eine Rolle – alle mit nackten Oberkörpern und rasierten Schädeln und die so dieses Pogo, so einander anrannten, halb Kampf, halb Tanz, und da dachte ich, das ist irgendwie so eine ganz schwule Sache, und da werden so ganz elementare archaische Berührungs- und Kampfsachen befriedigt, die wohl sonst gesellschaftlich einfach in dieser ganzen Unübersichtlichkeit nicht mehr greifen. Also, das hat mich wirklich ein bisschen erschreckt.“
Andererseits können Ritualisierungen ja auch sehr nützlich sein.
Das kann der Kern von etwas Hochkultivierten sein, wenn ich sozusagen das mit einem hohen Grad von Selbstmisstrauen zelebriere, also wenn ich mich selber dabei beobachte. Das erfordert aber einen gewissen Luxus, also ich muss mir den Luxus dieser Distanz, dieses Spiels leisten können, und es kann der Kern von der Barbarei sein, wenn ich mich dem blind überlasse.
Vielen Dank für das Gespräch
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