Johann Friedrich Geist ist am 4. Juni 1936 in Lübeck geboren. Er studierte Architektur an der TU-Berlin. Als Nachfolger von Julius Posener wurde er von 1977 bis 2004 Professor für Geschichte, Theorie und Kritik der Architektur an der Hochschule der Künste in Berlin (seit 2001 Universität der Künste).
Jonas Geist hat sich für den Erhalt der Bundesgewerkschaftsschule in Bernau eingesetzt. (Hannes Meyer und Hans Wittwer 1928 – 1930, die Schule gehört seit Juli 2017 zum UNESCO-Weltkulturerbe.) In diesem Kontext wurde das Interview geführt. Neben biografischen Anmerkungen geht es vor allen um die Charakterisierung der Bundesgewerkschaftsschule, um das Bauhaus um die Architektur der neuen Sachlichkeit, die Jonas Geist besonders am Herzen lag. Das vorliegende Interview, das 2002 in der Universität der Künste in Berlin geführt wurde, konnte nicht mehr autorisiert werden. Jonas Geist ist am 6. Januar 2009 gestorben.
Die Gewerkschaftsschule des ADGB in Bernau ist Weltkulturerbe. Feature von Adolf Stock vom 20. August 2002 im RBB unter dem Titel „Das vergessene Bauhaus. Die Bundesgewerkschaftsschule in Bernau“.
Website der Bundesschule des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) in Bernau
Peter Steininger, Anja Guttenberger (Eds.): Architekturführer Bauhaus-Welterbe Bernau. Berlin (The green Box, Anja Lutz Art books) 2022
Ich möchte zunächst fragen: Was ist für Sie das Bauhaus?
Das Bauhaus ist für mich eine historische Angelegenheit, die in Weimar begann, dann nach Dessau ging und dann noch ein kurzes Gastspiel in Berlin gegeben hat. Und da meine Familiengeschichte mit dem Bauhaus zusammenhängt, weil mein Vater bei Klee gemalt hat, und meine Mutter an der Burg Giebichenstein in Halle Buchbindermeister war, ist das Thema Bauhaus bei uns an jedem freien Tag und an jeder freien Stunde Thema gewesen, sodass ich das nicht mehr hören konnte Nun habe ich aber einen schönen Abstand dazu inzwischen und jetzt kann ich da freier mit umgehen.
Einige Themen davon sind mir natürlich näher gekommen. Das ist einmal das Versuchshaus in Weimar, dann der Neubau in Dessau. Und dann schließlich die große Schule von Hannes Meyer in Bernau, weil wir dort einen Verein zur Sicherung dieses Gebäudes gegründet haben.
Das Bauhaus hat ein bestimmtes Lebensgefühl vermittelt. Es gab hohe Ansprüche an Lebensqualität. War das für Sie spürbar, hat das ihre Sozialisation beeinflusst?
Sehr stark. Ich bin jetzt gerade dabei ein Kapitel über meinen Vater zu schreiben, weil es über seine pädagogische Arbeit ein kleines Heft oder Buch erscheinen soll, und dabei bin ich alles noch einmal durchgegangen, und meine Formulierung wäre, ich habe an meinen Eltern gespürt, wie sie gewissermaßen in diesen Zwischenkriegsjahren etwas angehoben worden sind. Das ist für mich das Bild. Also von den Erwartungen, den Lebenserwartungen dieser Region, die ja auf der Braunkohlenbasis eine Industrie entfaltet hat, die durch das Filtrierverfahren, das Produzieren von Benzin aufgrund von der Braunkohle, natürlich ein unheimliches Erwartungsgebiet gewesen ist für eine neue industrielle Entwicklung in Mitteldeutschland, die sich dann in der Nazi-Zeit noch einmal fortsetzte, Salzgitter und so weiter. Aber jedenfalls dieses Angehoben-worden-sein durch die Moderne ist mir selbst zu einem erinnernden Leitmotiv geworden. Ich kann mir das vorstellen, ich weiß, am Schicksal meiner Eltern kann ich genau verfolgen, was das hieß. Erwartung eines neue freieren und vor allen Dingen von Armut und von Krankheit befreiten Lebens, in kleinen, ganz kleinen familiären Einheiten, denn sie kamen beide aus großen Familien.
Ist das nicht auch eine Mittelstandsphantasie über die kleinen Leute?
Das ist es sicher, sagen wir mal in der Herkunftsgeschichte, ein kleiner handwerklich orientierter Mittelstand, der über die Erwartung und über die Gründung von Schulen, in denen von Designer bis hin zu Architekten ausgebildet wurden, das hat was Mittelständisches, und das hat natürlich im Dritten Reich dann auch wahnsinnige Folgen gehabt, denn gerade in diesem Mittelstand ist ja das Hauptpotenzial der SA-Führungsschichten zu suchen. Also das hat dann unheimliche Konsequenzen, und die versuche ich mir vorzustellen, in die versuche ich mich hineinzudenken. Ich glaube das ist folgenreich bis heute.
Viele, die nicht so intime Kenntnisse haben, denken, wenn sie Bauhaus hören, an eine bestimmte Architektur. Fragen wir so: Welche Rolle spielte das Bauhaus für die Architektur?
Dahinter steckt ja dieser Traum von der mittelalterlichen Bauhütte, so eine Art Kathedralbewusstsein, und das Kathedralbewusstsein, das man mit allen Kräften des Volkes oder der Bevölkerung oder der Stadtbewohner sich ein großes gemeinsames öffentliches Gebäude baut. Also sagen wir mal eine Kirche, wie der klare Ausdruck dafür ist, das überträgt sich in den 20er Jahren auf diese Bauhaus-Idee, in Weimar geht’s ja los. Und ich denke mal, das ist ein Leitmotiv, ein idealtypisches Leitmotiv eigentlich bis heute, und der Bau ist ein Motiv, was es über Jahrhunderte eigentlich tradiert ist, und das ist immer noch für viele ein Vorbild, selbst in der HDK, der Hochschule der Künste hier, sind solche Ideen weiter zu verfolgen nach dem Krieg, so etwas, oder Max Taut oder so. Nur heute hat das natürlich solche Perspektiven nicht mehr.
Ich würde gern über die Gewerkschaftsschule in Bernau sprechen. Könnten Sie zunächst den Charakter dieser Schule etwas konkretisieren?
Die Bernauer Gewerkschaftsschule, die von Hannes Meyer mit Studenten und allen möglichen Fachleuten aus seiner Umgebung, richtig auch selbst gebaut wurde, ist eigentlich eine Schule zur Weiterausbildung von Gewerkschaftsfunktionären, auf billigem Gelände, am Rande der großen Stadt, aber mit S-Bahn-Anschluss, sodass man zu Fuß dorthin kam, ohne Fahrzeug.
Man muss sich das ja noch alles ohne Auto vorstellen. Und diese Gewerkschaftsschule ist eigentlich eine Art Kloster. Es ist ein weltliches Kloster, in dem man wohnte, in dem man Ausbildung erhielt, indem man was zu essen kriegte und in dem man schlafen konnte. Alle Funktionen des Lebens, des alltäglichen Lebens waren in diesem Haus wie in einem Kloster untergebracht. Man sollte aus dem alltäglichen gewerkschaftlichen Kampf ein paar Wochen, zwei Wochen ausscheiden und dort sich auf theoretische und praktische Fragen konzentrieren, diese Funktion hatte es, und das Gebäude ist auch so gebaut. Es hat quasi wie ein Waldweg einen inneren Gang. Dieser Waldweg, ich sag immer, der ist eigentlich so ähnlich wie die Waldwege, die da links und rechts in den Kieferschonungen auch vorhanden sind.
So einen Weg hat er genommen, hat ihn abgeknickt nach vorne und nach hinten, in der Mitte sind die Schlafgruppen und am Ende sind die Ausbildungsräume, also Hörsäle und Sportanlagen und vorne sind abgeknickt die Lehrerhäuser und die großen Kanine und der Versammlungsraum. Also das ist eigentlich ein umbauter Waldweg. So würde ich es nach wie vor formulieren.
Mit dem Wald wurde ja schon immer Erziehung verbunden.
Der Wald als seelische Reinigungsanstalt, diese Funktion von Wandervogel bis X ist ja immer noch da. Und der Deutsche geht in den Wald, um sich zu sammeln und sich zu reinigen.
Das kann man ja in Anführungsstrichen sehen, aber diese Funktion hat er jedenfalls in dieser Zeit auf jeden Fall gehabt, denn das ist nicht ohne die Wandervogelbewegung und all die naturköstlerischen Bewegungen zu sehen. Auch Bernau ist meines Erachtens ein Summe solcher in Deutschland funktionsfähigen und verbreiteten Momente der Lebensreform. Ganz allgemein gesagt, sich der Natur auszusetzen, mit ihr umzugehen zu lernen, Sport zu treiben, Bildungsgüter sich anzueignen, selbst zu kochen und so weiter, das ist in diesem Entwurf von Hannes Meyer drin, und das sieht auch so aus.
Nun war das architektonische Ergebnis doch eine Art Revolution. Das Haus ist ein Prototyp für eine gebaute Erziehungslandschaft.
Wenn Sie sich mal dieses erste Gebäude in Weimar ansehen, dieses Versuchshaus, das hat noch so etwas von einem orientalischen Wohnhaus um einen Hof rum, während das Dessauer Bauhaus schon so etwas wie die Adaption des Industriebaues ist, also eine Ästhetisierung des Industriebaues, so haben sie in Bernau eine freie asymmetrische Komposition eines Gebäudes, das gibt es sonst gar nicht.
Alle Gebäude um sie herum, auch hier in Berlin, sind immer symmetrisch gewesen. Linke Seite, rechte Seite, jede Kirche ist so gebaut und dort ist eigentlich – das ist für mich das Tollste – zum ersten Mal mit der Asymmetrie gespielt. Das heißt, dass jedes Gebäudeteil, jede Funktion so groß und so gestaltet wird, wie es aus seiner funktionalen Notwendigkeit her sich anbietet. Und das teilt sich bei der Besichtigung und bei dem Besuch auch mit.
Das Gebäude liegt mitten in der Landschaft. Es nimmt die Naturbesonderheiten wie den kleinen Teich und all diese Dinge auf und es gestaltet in sich jede Funktionsgruppe, also Bildung oder Schulung oder Schlafen in ganz unterschiedlicher Gestaltung auf. Also, das ist ganz toll, wie man das im Einzelnen verfolgen kann.
Da gehen bei Hannes Meyer auch die jüngsten Forschungsergebnisse zur Psychologie, zum Umgang mit Klimaten, mit Licht und Schatten ein, wie sie zum Beispiel in der Universität in Leipzig entwickelt sind und so. Das nimmt er alles mit auf und baut es mit ein und versucht es umzusetzen und das auch als pädagogisches Projekt, denn es ist ja mit Studenten gemacht. Das muss man sich heute mal klarmachen. Das war für uns immer in früheren Jahrzehnten ein großes Vorbild: Hannes Meyer baut eine Schule mit Studenten. Das hätten wir auch gerne gemacht, aber dazu hatten wir leider keine Gelegenheit.
In Ulm, das Schulgebäude von Max Bill, hat das Beziehung zu Bernau?
Ulm reflektiert diese Hannes Meyersche Ideologie, die des Umsetzens aller funktionalen Momente. Ulm folgt dem, aber ich denke mal, Ulm hat nicht so ein Bild entwickelt. Es hat zwar auch so eine Art Hanglage und die Raumfolgen folgen Wegesystemen, aber trotzdem ist es nie zu so einem Bild gekommen, wie wir es von den früheren Bauhaus-Gebäuden her gewöhnt sind. Also die Verbildlichung hat nicht stattgefunden.
Wie kommt es, dass das Gebäude von Hannes Meyer im öffentlichen Bewusstsein so weggerutscht ist, dass es ein geringeres Image hat als die Ikone in Dessau?
Hannes Meyer, der als Waise in Basel aufgewachsen ist, ich habe mir extra dieses Kloster, wo er aufgewachsen ist, mal angeguckt. Ich dachte, dass er daher was hätte. Ist aber nicht der Fall. Ich möchte mal sagen, er ist durch seine politische, geradlinig politische Ausrichtung sich der sozialistischen, kommunistischen Bewegung in Europa anzuschließen, ist er natürlich dann nach dem Krieg in Verruf geraten und man hat ihn als, in dieses Paket des Bösen an sich platziert, und über Hannes Meyer konnte man eigentlich erst in der späten DDR-Zeit wieder richtig reden.
Basel wollte sowieso nichts mit ihm zu tun haben, denn das war ein Abtrünniger, und in der Bundesrepublik über Hannes Meyer zu reden war so gut wie nicht möglich. Also erst in der DDR und dann mit dem kleinen ersten Band im Verlag der Kunst ging eine Hannes-Meyer-Rezeption los, die sich sehen lassen konnte, die also auch das zurechtrückte, was das für ein toller Versuch war, das Bauwesen, sagen wir mal zu revolutionieren, durch Beachtung aller Umstände des Lebens. Das finde ich immer noch das Tollste an ihm.
Welches Resümee würden Sie denn ziehen, welche Bedeutung hat die Gewerkschaftsschule heute?
Nach langem hin und her wird sie ja restauriert, was ich sehr gut finde. Es wird auch einem verwandten Zweck zugeführt.
Also wieder eine Art klösterliche Ausbildungsstätte werden und man wird sicher auch die Gartenpartien, die ja ebenso interessant sind, restaurieren. Aber ich denke mal, man könnte sie als Teil einer allgemeineren Ausbildungsstätte begreifen, deren Umstände noch gar nicht richtig erforscht ist. Ich sehe in den bisherigen Publikationen, erst den Anfang dieser gedachten Architektur von Hannes Meyer, die Lebensumstände die alltagskulturellen Umstände mit einzubeziehen in die Planung. Darin liegt der Vorbildcharakter dieses Gebäudes und das ist noch gar nicht richtig im Bewusstsein.
Ich möchte noch auf ein anderes Thema zu sprechen kommen. Das Bauhaus wurde in den 50er Jahren auch kritisiert. Es gab den Streit mit dem Kölner Architekten Rudolf Schwarz.
Als nach dem Krieg das Bauhaus aus Amerika wieder nach Deutschland kam, war Kritik am Bauhaus fast unmöglich. Können Sie sich an diese Zeit erinnern?
Das Bauhaus war lange Zeit so etwas, wie unter der Decke wurde darüber geredet. Dann wurde es offiziell, dann wurde das unter der Emigrationsgeschichte gelesen, dann wurde es gelesen unter der Rückkunft oder der Rückankunft nach dem Krieg von ehemaligen Bauhäuslern. Dann kam der Versuch mit Ulm, es zu ersetzen, was ja kläglich gescheitert ist an der Politik.
Und erst dann, ganz allmählig wurde das Umfeld und die Bedeutung dieses Schulversuches, da sag ich mal, herausgekratzt. Also ich möchte es so sehen, die wissenschaftliche Erforschungsgeschichte ist erst in den Anfängen, und viele Bereiche, über die Bedeutung von Josef Alberts und viele andere, sind noch gar nicht so richtig zurechtgerückt in ihrem Verhältnis zu anderen. Es ist zu sehr majorisiert von führenden Personen wie Gropius und die zweite und die dritte Riege dahinter. Ich glaube, dass wir noch kein wirklich geschlossenes Bild des Bauhauses bis heute haben.
Geht das überhaupt? Max Bill hat mir mal gesagt, das Bauhaus sei nur ein Name, wo sich alles Disparate zusammenfindet.
Wenn Sie mal heute eine neue Schule gründen würden, in der Ausbildung, dann würden Sie genau diese Probleme bekommen. Wie kann man mit so etwas umgehen, zumal das Bauwesen in seiner führenden Rolle in der Gesellschaft eigentlich so nicht mehr existiert. Heute sind die Bauvorgänge zerlegt, in Teilleistungen, die alle von Spezialfirmen erledigt werden. Und da eigentliche Entwerfen, das Entwerfen einer Gesellschaft oder einer, oder sagen wir mal eines neuen Zusammenhanges, der ist nicht mehr in einer Hand, den würden Sie auch gar nicht in ihre Hand bekommen. Da hat sich die Gesellschaft vollständig geändert, und insofern bleibt es ein schwindender Traum aus der Zwischenkriegszeit.
Als das Bauhaus von Weimar nach Dessau ging, gab es auch eine inhaltliche Zäsur. Viele Bauhäusler sind nicht mit nach Dessau gegangen, sondern blieben in Weimar oder gingen an die Burg Giebichenstein nach Halle.
Also Weimar – ganz grob – ist ja keine Industriestadt, sondern eine kleine Residenzstadt. Dessau war aber schon ganz anders, denn im Süden von Dessau liegt Leuna und Buna, wo die IG Farben riesige Chemieanlagen errichteten, um von der Artillerie aus Frankreich sicher zu sein. Sie gingen vom Rhein weiter östlich ins mitteldeutsche Gebiet. Die Braunkohlebasis habe ich schon erwähnt, und die Kali-Industrie und so weiter. Da sind aber dann die Junkers-Werke als große Flugzeugwerke, die eben Wohnungen für Arbeiter brauchen, die Designer brauchen, die Entwerfer brauchen und dieser Schub ist die Basis für das Bauhaus in Dessau.
Das ist ganz analog zu der großen Siedlungsarbeit von Hannes Meyer in Frankfurt. Da war es auch so, dass die Chemieindustrie im Frankfurter Raum Wohnungen für Arbeiter brauchte. Das ist die Basis für dieses große Experiment, wenn das nicht da ist, bleibt es ein ästhetisches Spielchen für begüterte Leute, die ihre Kinder zu einer lustigen Kunstausstellung verhelfen wollen. In Berlin ist das eigentlich nur noch Fragment. Aber der Vergleich Dessau zu Frankfurt meines Erachtens erhellt den Zusammenhang. Wenn die Industrie nicht sagt, wir brauchen Leute, die gut ausgebildet sind, und wir haben ja heute ähnliche Verhältnisse im Computer-Zusammenhang, wir haben keine ausgebildeten Leute und wir müssen die Ausbildung eigentlich selbst organisieren. Wenn ich die nicht haben will, dann passiert auch nichts. Und das verbindet eigentlich im diesem Falle in den zwanziger Jahren die Chemieindustrie als Entwicklungsbasis für das moderne Leben bis heute.
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