Pierre Vago ist am 30. August 1910 in Budapest geboren und wuchs in Rom auf, doch seine Karriere begann später in Paris, wo er zunächst Architektur studierte. Er blieb in Frankreich und wurde einer der bedeutendsten Architekten seiner Zeit. Seine Bauten sind Zeugnisse einer sozialen Architektur, die in jüngster Zeit wieder verstärkt in das Blickfeld gerät. Auch als Architekturkritiker war er bedeutend und war lange Zeit Chefredakteur der angesehenen Architekturzeitschrift L’Architecture d’aujourd’hui. 1957 nahm Pierre Vago an der Internationalen Bauausstellung im West-Berliner Hansaviertel teil.
Im Dezember 1999 rief mich Gabi Dolff-Bonekämper an, der Architekt Pierre Vago sei in der Stadt, ob ich nicht die Gelegenheit nutzen wolle, mit ihm zu sprechen. Ich nahm den Hinweis dankbar auf und verabredete mich am 15. Dezember in der Akademie der Künste zu einem Interview, das zunächst mit keinem konkreten Projekt verbunden war. Am 21. März 2001 hat das Kultur-Radio des RBB ein halbstündige Portrait unter dem Titel „Die Rückkehr des Sozialen. Der Architekt und Kritiker Pierre Vago“ gesendet. In späteren Sendungen für das Deutschlandradio kam Pierre Vago ebenfalls zu Wort. Das erstmals vollständig zugängliche Interview lebt auch von einem schönen, manchmal eigenwilligen Spracheduktus. Deutsch hatte er im Urlaub auf der Skipiste gelernt. Das Interview konnte nicht autorisiert werden, Pierre Vago ist am 1. Februar 2002 in Noisy-sur-École gestorben.
Sendung von Adolf Stock „Die Rückkehr des Sozialen - Der Archiekt und Kritiker Perre Vago“ RBB Kultur (SFB) am 21.03.2001, Manuskript zum Nachlesen
Sendung von Adolf Stock „Interbau 1957 - Der Wiederaufbau des Berliner Hansaviertels“ Deutschlandfunk Kultur, Länderreport am 06.07.2007, Manuskript zum Nachlesen
Sendung von Adolf Stock „Spreemoderne - 20 Jahre Berliner Architekturpreis“ Deutschlandfunk Kultur, Zeitreisen am 21.10.2009, Manuskript zum Nachlesen
Wir sitzen hier in der Akademie der Künste im Berliner Hansaviertel. Hat sich Ihr Blick auf das Hansaviertel im Laufe der Jahre verändert?
Ich komme ziemlich oft nach Berlin, so vier, fünf Mal im Jahr, und ich habe nicht den Eindruck, dass in diesem Gebiet, im Hansaviertel, viel geschehen ist. Ich habe noch immer den Eindruck, dass das ein sehr angenehmer Ort ist zum Leben.
Ich finde noch immer, dass es ein sehr gutes Beispiel ist. Es gibt wenig Wohneinheiten, die noch immer so angenehm sind wie diese. Natürlich, vielleicht ist es auch ein Luxus: Die Dichte ist nicht sehr groß, und die Natur ist so schön. Ich denke immer, wo möchte ich eventuell leben? Und ich könnte sagen, im Hansaviertel möchte ich gerne leben.
In wenigen solcher Siedlungen möchte ich gerne leben. Auch nicht in dieser sehr bekannten Siedlung in Stuttgart. Ja, da stehen Häuser, interessant für die Epoche, aber das Gesamte ist nicht schön, nicht gut, nicht angenehm.
Aber es gibt andere positive Beispiele.
Ich möchte sagen, dass ich von diesen größeren Einheiten in diesem Teil Europas vielleicht nur Louvain-la-Neuve in Belgien kenne. Das ist eine ganz neue Stadt. Aus politischen Gründen hat man sie dort so geschaffen. Und auch dort finde ich, dass man gut und angenehm leben kann, eben weil es nicht systematisch ist, das sind keine Rasterhäuser, wo man sagt, welche Nummer bin ich, also ich bin „A 27“ oder so etwas. Es ist mehr menschlich, und die menschlichen Beziehungen sind dort leichter. Hier im Hansaviertel fehlt das vielleicht etwas.
Wo liegen im Hansaviertel die Probleme? Was hätte man damals besser machen können?
Ich glaube, hier in diesem Fall kann man nicht viel helfen. Das Hansaviertel ist das, was es ist und wie es ist. Nein, ich glaube nicht, dass man mit etwas mit einem Zubau ändern kann.
Der Fehler ist, dass die Kontakte zwischen den Leuten, den Bewohnern sehr schwer sind. Sie leben in einem angenehmen Rahmen, in der Natur, in der Ruhe, und sie haben nicht den Eindruck, dass sie so eine Nummer sind, eine Zahl. Es ist ziemlich menschlich. Aber wie man hier einen mehr urbanen Charakter hereinbringen kann, ich glaube das ist nicht möglich, das würde das Ganze zerstören. Man muss es annehmen, wie es ist.
Die Architekten des Hansaviertels wollten etwas Gemeinschaftliches schaffen. Das hat nicht immer funktioniert.
Ich weiß nicht, also ich möchte nicht so viel über meine Sachen sprechen, aber die kenne ich nun einmal am besten. Ich möchte sagen, an einigen Plätzen in Frankreich ist es mir doch gelungen, einen lebendigen Stadtteil zu machen. Das ist am besten der Fall in Le Mans. Ich war der Stadtplaner von Le Mans, das ist eine historische Stadt, nicht sehr interessant, eine herrliche Kathedrale, aber sonst gibt es nichts. Eine langweilige Stadt, viel zu schnell groß geworden in einer schlechten Periode.
Aber ich hatte probiert, das zu verbessern, das war sehr schwer. Es gab einen Teil der äußeren Stadt, der ganz frei geblieben ist, wegen einem Fluss, der manchmal so anstieg, dass man dort nicht bauen konnte. Aber es war ein großes Gelände, gleich neben der Stadt. Und weil es am Fluss war, fand ich das sehr interessant. Mit Hilfe von Spezialisten haben wir eine Lösung gefunden, dass dieses Gelände trocken sein konnte. Dort entstand in ungefähr zehn Jahren eine neue Stadt. Sie war geplant für 25.000 Einwohner, jetzt leben dort fast 28.000, und es gibt ein ganz intensives Leben.
Am Fluss habe ich eine vier Kilometer lange Promenade gemacht. Nicht nur so ein langweiliger Spaziergang, sondern mit einer ganzen Menge Sportanlagen, Häuser für die Jugend, ein Stadion und so weiter. Eine große olympische Schwimmhalle, ein großes Kino und einen Markplatz, einen wirklichen Marktplatz, wo jede Woche zweimal die Leute vom Land kommen. Rundherum sind Geschäfte mit Arkaden und ein Café. Es gibt wirklich ein Leben, und es gibt auch eine Kirche.
Wenn man diesen Stadtteil besucht, kann man bemerken, dass sich die Leute da gerne treffen. Die ganz kleinen Kinder spazieren mit ihrer Mutter, sie haben Plätze dafür, die Jugend ist sehr froh, sie kommen aus der Altstadt und aus den neuen Stadtteilen rundherum dorthin. Es ist sehr lebendig.
Ich habe Le Mans mit dem ungarischen Rundfunk besucht, mit der Television. Die waren ganz erstaunt, wie lebendig diese Neustadt war, die ganz neu in zehn Jahren aufgebaut worden ist. Ich kann mir vorstellen, dass es für neue Städte viele Möglichkeiten gibt, aber das muss ein gesamtes Programm sein, von Anfang an. Man muss es programmieren, dass Platz für alle diese spontanen Treffpunkte da ist.
Das Individuelle zu würdigen ist wichtig, aber man muss auch für die Gemeinschaft planen.
Ich kann über Louvain sprechen, über Leuven in Belgien. Dort hat man eine riesige Varietät von Wohnmöglichkeiten: kleine Häuser, kleine Wohnungen, kleine Straßen, Fußgängerwege mit ruhigen Häusern, Häuser mit Garten, und man kann überall zu Fuß bis zur Mitte der Stadt kommen. Aber auch rundherum mit den Autos, und da gibt überall eine ganze Menge unterirdischer Parkstellen. Die Bahn kommt auch unter die Stadt, bis zur Stadtmitte.
Ein Bahnhof ist immer ein wichtiger Punkt. Um den Bahnhof gibt es ein ganzes Leben, Geschäfte und so weiter, und diese Bahn führt nach Brüssel in 12 Minuten.
In Leuven gibt es auch eine große Varietät von Plätzen, wo man nicht nur hingeht, weil man jemanden treffen möchte oder weil man dort zu tun hat, dort ist es auch schön und nett. Es gibt keinen Verkehr, und von einem Teil der neuen Stadt zum anderen kann man überall durch Grünes fahren. Zur Stadtmitte kann man auch zu Fuß gehen, es sind lebendige Wege, da sind eine ganze Menge kleiner Cafés, Restaurants, Bier- und Weinstuben entstanden. Alles lebt, und die Leute sind froh und leben doch in der Ruhe.
In Berlin wird diskutiert, dass das Hansaviertel nicht urban genug ist. Welche Rolle spielt die Natur in der Stadt?
Ich glaube, das war genau so gedacht. Das war ein Gegenbeispiel gegen diesen zu dichten Beton, gegen Steine und zu viele Gebäude. Zwischen den Gebäuden gab es keinen Treffpunkt für die Bevölkerung, keinen Charme, um spazieren zu gehen. Man muss schnell nach Hause gehen oder möglichst schnell zu einem Arbeitsplatz gehen, und dann kommt der Rundfunk und die Television, das Fernsehen, so leben dann die Leute.
Der Treffpunkt, wenn man das einen Treffpunkt nennen kann, ist der Fernseher. Man sagt, dass in Deutschland um acht Uhr die Straßen leer sind, weil alle Leute schauen die Nachrichten an. Aber das ist nicht genügend, und das ist auch nicht gesund, meine ich, soziologisch. Die Treffpunkte, wo man sich spontan mit anderen Leuten zusammenfindet und Kontakt hat, die muss man doch städtebaulich programmieren und auf solche Punkte planen, wo die Leute spontan zusammentreffen.
Ich glaube, das ist nicht nur in südlichen Ländern so. Natürlich, die Italiener sind überall zusammen und auch die Spanier. Die Franzosen etwas weniger, im Süden doch, aber ich glaube, dass auch die Deutschen so sind. Ich sehe das doch: Wenn eine Gruppe von Deutschen irgendwo ist, sind sie sofort befreundet, und sie trinken Bier und singen.
Ich glaube nicht, dass der Deutsche so ein Individualist ist, sondern im Gegenteil. Als ich jung war, habe ich immer gesehen, dass diese Wandervögel oder wie sie heißen, mit Trommeln und Fahnen, sich gern zusammenfinden, und wenn man in München ist, dann sieht man in diesen Bierstuben, wie die Leute sich schnell befreunden. Ich glaube, das ist ein Teil des Lebens des Menschen, nicht allein zu sein, eventuell mit seiner Familie, aber auch mit anderen Leuten. Aber die Gelegenheit, die Möglichkeit sind mit der heutigen Zivilisation, der mechanischen Zivilisation seltener geworden, weil die Straße, der Marktplatz oder die Kirche nicht mehr genügen.
Architektur ist wichtig, aber es ist mehr eine Frage von Städtebau. Ein schönes Stück Architektur in einer schlechten urbanen Umgebung ist ganz verloren. Meiner Meinung ist, dass ein Stadtteil, auch in historischen Städten, wichtiger ist als ein einzelnes Gebäude.
Beim Bau des Hansaviertels waren Sie sehr jung. Es gab bedeutende Architekten und Sie hatten großen Respekt vor diesen Übervätern. In welche Situation waren Sie hineingeraten?
Ich glaube, die Idee, die guten Architekten aus mehreren Ländern einzuladen, um dort etwas zu zeigen, war eine richtige Idee. Der Gesamtplan war auch landschaftlich schön, Es war eine Reaktion gegen diese monotonen Siedlungen, die mit diesen parallelen Streifen etwas langweilig waren, immer dasselbe, auch wenn es im Detail schöne Elemente gab.
Wenn ich mir das jetzt anschaue, ist mein Gefühl, dass die eingeladenen Architekten nicht das Beste gemacht haben, was sie hätten machen sollten und konnten. Sie haben ein Stück Architektur gemacht, manchmal sogar schon fertige Pläne mitgebracht, aber sie haben nie eine gesamte Beratung, eine Diskussion über das Ganze, über das Problem des Ganzen gemacht. Das fehlte, jeder hat sein Stück gespielt.
Die Häuser sind da, sie sind gut oder nicht gut, sehr gut oder ganz schlecht, aber es sind nur einzelne Gebäude, die man irgendwo in ein grünes Gelände gestellt hat: Das Ganze ist wegen des Grüns angenehm, die Stücke sind gut oder nicht so gut. Ich selbst war einer der jüngsten und sehr berührt, dass man mich eingeladen hatte, und vielleicht wollte ich zu viel machen.
Heute hätte ich vielleicht etwas weniger gemacht und es besser gemacht. Ich habe probiert, etwas mehr zu machen, als ich ständig in meinem Beruf gemacht habe, mit diesen all diesen Regeln und Beziehungen. Ich glaube, der Gesamtplan wäre viel besser geworden mit einer Besprechung, und vielleicht hätten die eingeladenen Architekten auch mehr das Gefühl gehabt, dass sie zu einem Ensemble gehören.
Geht das so einfach, dass die Kollegen sich zusammensetzen und sich miteinander besprechen?
Das ist ganz realistisch. Wenn man sie zusammenbringt, dann kommen sie auch. Und wenn man sie fragen würde, was denken Sie über das Problem und über das Ganze und nicht nur über dieses Stück, dann würde vielleicht etwas Interessantes entstehen. Aber in meinem Fall war es so: Mir hat man sehr nett gesagt: Hier ist ein Platz, hier ist so etwas, so eine Form ungefähr, bitte mach es. Na ja, es soll soundso viel kosten, und das sind die deutschen Normen und Regeln. Gut. Dann habe ich in meinem Büro in Paris etwas geplant, und genau so haben es die anderen gemacht. Aber ich wusste nicht, was man neben mir baut.
Es gab auch die Vorstellung, dass das Haus selbst eine Stadt sein sollte. In Ansätzen gilt das auch für Ihr Haus, dass viele Lebensbereiche in dem Gebäude zusammengefasst wurden.
Ich habe das natürlich probiert. Ich meinte, wenn da jetzt 50 Familien zusammenleben, dann müssen sie eine Möglichkeit haben, sich kennenzulernen. Kleine Kinder sollen zusammen spielen können und so weiter.
Darum habe ich solche Treffpunkte geschaffen – aber nicht wie Le Corbusier oder Niemeyer mit einer Ebene für Geschäfte. Das hat nie und nirgends funktioniert, auch in Marseille, das ist ganz tot. Es ist auch ganz falsch zu denken, dass die Leute zum Einkaufen im Haus bleiben. Und ein Geschäft von Obst, kann nicht von 100 oder 150 Leuten, die dort leben, existieren, nicht ökonomisch und finanziell. Und niemand wird so blöd sein, von einem anderen Gebiet oder Haus in den siebten Stock hinaufzugehen, um Zwiebeln einzukaufen. Das ist absurd. Auch die fünfte Ebene im Niemeyer-Haus ist immer leer geblieben. Das geht nicht. Ich glaube, das Einkaufen muss eine Form von Marktplatz sein, wo sich Leute etwas auswählen können und sich treffen.
Ich lebe in einem ganz kleinen Dorf, dort gibt es kein Geschäft. Aber fünf Kilometer weiter ist die kleine Stadt Milly-la-Forêt, und dort ist zweimal in der Woche ein Markt. Das ist der Salon. Wir finden dort eine ganze Menge Leute und sprechen mit ihnen. Sie gehen alle dorthin, weil es ein Treffpunkt ist.
Was ich in meinem Haus probiert habe, war eine Reaktion gegen das, was wir täglich bauen oder planen müssen. Ich wollte, dass sich nicht immer dieselben sozialen Familiengruppen treffen. Ich habe versucht, eine gewisse Mischung zu machen. In diesem Stadtteil in Le Mans gibt es Sozialbauten, weil es eine Arbeiterstadt ist, aber es gibt auch eine ganze Menge Medium-Gebäude, vier Stockwerke, drei Stockwerke mit Garten, oder ganz individuelle Häusergruppen für Ärzte, Architekten oder Ingenieure, die nicht im siebten Stock, Treppenhaus A eines Hauses sein möchten.
Aber alle haben einige Punkte, wo sie sich treffen. Und diese Varietät ist nach meiner Meinung wirklich sehr wichtig. In Paris, auch in anderen französischen Städten, haben wir das Phänomen der Banden, wie wir sagen. Diese Jugend ist unter sich, fühlt sich gegen die Gesellschaft, und das ist ein riesiges Problem: Das sind Araber, das sind Leute aus dem Osten, die leben ihr Leben und die in Frankreich geborenen Franzosen, laufen weg, weil sie das nicht aushalten können, und dann kommt eine Segregation, und die ist so schlecht.
Wo das nicht ist, wo es gelungen ist, die Leute zusammenzubringen, da sind sie alle Menschen; Frauen und Kinder, und das geht viel besser.
Diese Mischung ist für mich ein wichtiges Element im Gebäude, im Stadtviertel, in der Stadt. Das habe ich im Hansaviertel in einem kleinen Maßstab probiert zu machen. Ich glaube, es ist nicht ganz gelungen. Man hat mir gesagt, dass zum Beispiel diese große Terrasse, wo die drei Treppen und Lifte zusammenkommen, diese Terrasse hat man nicht genutzt, die lebt nicht.
Diese Vorstellung von einem Treffpunkt, einem sozialen Gefüge, wie kam sie zustande bei Ihnen? Kam sie nach und nach kam oder hat das auch biografische Gründe?
Das das kommt von meinem Leben wahrscheinlich. Ich hatte einen Vater, der war Architekt und eine Mutter, die war eine bekannte Sängerin und Professorin an der Musikakademie in Rom. Ich war oft allein und hatte keine Familie, kein Familienleben. Darum habe ich ein Leben außerhalb meiner Familie gesucht, und das habe ich auch gefunden und gesehen, wie schön das sein kann und wie angenehm und wie wichtig das ist. Und darum habe ich immer – auch später – probiert, die Leute zusammenzubringen, immer zusammenzubringen, und das geht auch.
Da ist Architekt ein idealer Beruf, um das zu gestalten.
Ja natürlich, Architektur könnte der schönste Beruf der Welt sein. Aber leider lässt die heutige Gesellschaft das nicht zu. Heute dominiert Bürokratie und Geld, und der Architekt ist ein Sklave dieser zwei Elemente. Wir hängen sehr ab vom Geld. Geld, das sind Banken oder Promotoren, das sind alle, für die der Gewinn das Wichtigste ist.
Auch die Medien sind sehr wenig idealistisch im Gesamten. Sie dienen, auch wenn sie es nicht wissen, diesem Regime, was wir in der Architektur, was ich jedenfalls die Starlets nenne, die modischen Architekten. Die sind nicht besser als andere, manchmal sind sie ganz schlecht. Zum Beispiel der Architekt, der die große Bibliothek in Paris gebaut hat. Es ist ein Absurdum, es war ein Blödsinn. Jetzt ist es gebaut, hat dreimal so viel gekostet wie vorgesehen und ist nicht schön, ist nicht interessant, hat nichts. Und doch ist der Architekt durch die Medien ein weltbekannter Mensch geworden.
Theoretisch ist Architektur ein herrlicher Beruf, weil wir – nicht alle, aber einige von uns – schöne Sachen schaffen könnten für die Menschen und auch für die Geschichte. Leider ist es heute nicht leicht, aber es wird schon wieder so sein. Ich hoffe, ich hoffe, dass die Menschheit nicht ganz verloren ist.
Gibt es ein Gebäude von Ihnen, auf das Sie besonders stolz sind?
Ich habe nicht sehr viel gebaut, aber doch einiges. Man hat mich oft gefragt, was ist ihr Lieblingsgebäude? Komischerweise möchte ich sagen, es sind nicht die großen Sachen.
Vielleicht kennen Sie diese große Basilika in Lourdes, das ist eine Pilgerstätte, jedes Jahr kommen dort fünf oder sechs Millionen Pilger hin.
Es war eine hässliche Stadt, mit vielen hässlichen Gebäuden, mit vielen hässlichen Statuen. Ein Bischof hat mir die Aufgabe gegeben, etwas zu verbessern. Und ich habe dort viel gearbeitet. Wir haben viel abgebrochen, was man dort mit viel Herz vielleicht aufgebaut hatte, aber das Ergebnis war ganz hässlich.
Und dann kommt plötzlich ein Telefonat vom Bischof. Er sagt: Monsieur Vago, ich brauche einen geschlossenen Raum für fünftausend Pilger. Ich dachte, mein Gott. Ich probierte alles abzureißen, was man nur konnte, und jetzt sagt der, Bischof ich muss ein Monstrum bauen.
Die größte Kirche in Lourdes hatte 2400, 2500 Plätze. Fünftausend! Ich suchte eine Möglichkeit, und dann kommt schon wieder ein Telefonanruf: Nein zehntausend, denn es kommen Gruppen von Pilgern von fünf-, sechs-, sieben-, achttausend Leuten mit ihrem Bischof, und die wollen zusammen sein für eine Zeremonie, für eine Messe.
10.000 Leute! Als die einzige Lösung, die ich dann sah, war die Überlegung: Wir machen es unterirdisch, so dass es im Bild der Landschaft kein Monstrum wurde. Nicht leicht hat man diese Idee angenommen. Während der ersten Studien sagte der Bischof, machen Sie es so groß, wie es nur irgend möglich ist. Auch 10.000 wird zu klein sein. Und dann war mein Programm einen möglichst großen Raum in dieser Gegend der Pyrenäen zu bauen, wo es oft regnet. Man kann dort nicht alles draußen machen, mit den vielen Kranken und Pilgern. Also eine große Halle, wo so viele Leute wie möglich sein können.
So entstand die Basilika, die wir am Anfang nicht Basilika nannten, sondern den großen Schirm. Sie steht jetzt seit fast 50 Jahren. Die Leute haben sie angenommen, und ich finde sie ziemlich schön. Es gibt keine Dekorationen, nichts, nur eine besondere Form, eine schöne Betonstruktur. Ja, die Basilika ist mein größtes Bauwerk, aber nicht das, was ich am meisten liebe.
Sondern?
Wenn man mich fragt, was liebst Du am meisten, dann würde ich sagen – ich bleibe im kirchlichen Gebiet –eine kleine Kapelle, die ich für ein Kloster in der Mitte Frankreichs im Gebirge gebaut habe. Es ist eine ganz kleine Kapelle, aber es gibt dort eine Atmosphäre, wo ich mich glücklich fühle, ganz weit von der Welt.
Und was noch viel wichtiger ist, dass die Schwestern, die dort leben und täglich zwei-, drei-, viermal dort sind, auch sie sind so froh. Es ist jetzt schon die dritte Generation, und immer bekomme ich noch Briefe: Wir fühlen uns so gut in Ihrer Kapelle. Manchmal gehen ich dorthin, und ich fühle mich wohl. Also, ich möchte sagen, von allem was ich gebaut habe, was mir am Herz am nächsten steht, ist diese kleine Kapelle.
Würden Sie in Ihr eigenes Haus ziehen?
Ich möchte nicht in einer Wohnung, in einem Gebäude, das ich gebaut habe, leben. Nein. Ich würde gern, wenn ich die Möglichkeit hätte, für mich selbst ein Haus bauen. An einem Platz in einer natürlichen Umgebung. Aber leider habe ich nicht die finanzielle Möglichkeit, das zu tun, und darum lebe ich seit 15 Jahren in einem kleinen Dorf, wo ich zwei Ruinen, zwei Bauernhäuser gekauft habe. Die Grundstücke waren zu klein, davon konnten die Bauern nicht mehr leben, und darum haben sie ihr Haus weggegeben.
Sie sind in die Stadt gegangen oder in die Nähe der großen Städte als Arbeiter, als Beamte oder haben ein kleines Geschäft, ich weiß nicht was. Jedenfalls sind es zwei Häuser, eins neben dem andern, etwa hundert Jahre alt, wie alle Bauernhäuser in dieser Umgebung. Es sind die letzten im Dorf, dann kommt der große Wald. Diese Ruinen habe ich nach dem Krieg ganz, ganz billig gekauft. Außen habe ich sie so restauriert, wie sie waren. Innen sind sie natürlich modern, mit Heizung, Elektrizität und alles was man braucht, aber sehr einfach und angenehm.
Erzählen Sie noch etwas über Ihr Haus im Hansaviertel. Spielen technischen Dinge eine große Rolle?
Nein, ich glaube nicht. Ich glaube, technischen Fragen existieren nicht. Man kann alles machen. Auch heute kann man alles bauen, was man will. Technische und technologische Probleme spielen keine Rolle, nur die Gedanken.
Die Le Corbusier-Häuser kenne ich gut. Wie Sie wissen, war ich 25 Jahre Chefredakteur von „L‘Architecture d’aujourd‘hui“, der damals wichtigsten Architekturzeitschrift in Frankreich. Deshalb war ich, bevor ich etwas baute, ein Kritiker. Ich habe eine ganze Menge Gebäude mit den Architekten besucht und für das Publikation geschrieben. So habe ich auch Le Corbusier und seine Bauten ziemlich gut kennengelernt.
Ich habe auch sehr schnell all die riesigen Fehler von den Le Corbusier-Bauten kennengelernt. Etwa dieses berühmte Haus in Marseille. Die sogenannte „Unité“ kannte ich sehr gut. Nur hatte ich kaum Einfluss mit meiner Meinung, er war ein zu großer Mensch, um kontrolliert zu sein.
Also die Wohnungen, die er baute, finde ich ganz schlecht. Sie sind zu schmal, zu niedrig, und plötzlich kommt ein kleines Wohnzimmer, das ist nicht groß und viel zu hoch. Es ist kein angenehmes Volumen, und die Zimmer sind viel zu klein.
Darum wollten die Leute nicht hineingehen, und der Staat, das Ministerium hat diese Wohnungen für die Hälfte des Preises an Bourgeoise-Leute übergeben, für die sie eigentlich nicht gedacht waren. Für Beamte und so weiter und eine Wohnung, die theoretisch für sechs oder sieben Leute geplant war, ist jetzt von drei Personen bewohnt, und dann geht es so-so-so.
Es ist ein System mit einem 130 Meter langen Korridor ohne Fenster, ohne nichts. Und da liegen die Wohnungen, das ist auch ein Absurdum. Da ist auch immer schmutzig, die Kinder spielen dort und machen dort ihre kleinen Sachen. Es stinkt, es ist wirklich ganz schlecht. Le Corbusier hat mehrere dieser „Unités“ gebaut, die bekannteste ist die in Marseille.
Ich möchte sagen, dass das kein gutes Beispiel ist für mich. Wie gesagt, er wollte im siebten Stockwerk Geschäfte haben, das hat nicht funktioniert. Auf dem Dach ist ein Kindergarten, ich habe ihn mehrfach besucht. Die Kindergärtnerin sagt: Es ist schrecklich, die Kinder sind wie in einem Kerker. Es gibt so eine Wand 1,60 Meter hoch, dass sie nicht herausfallen. Die kleinen Kinder sehen nur Beton, Beton, Beton, und sie sagt: Unten gibt es einen Garten. Warum? Es wäre viel besser, wenn wir unten wären. Warum einen Kindergarten auf einem Dach?
Ich finde, das ist vielleicht ein schönes Stück, ein riesiges Stück Skulptur, aber zum Leben ist es ganz schlecht. Voll mit Fehlern. Das ist ganz sicher. Für mich war es ein schlechtes Beispiel. Die großen Meister haben vielleicht sehr interessante Projekte gemacht, aber es gibt wenige, die mich wirklich froh machen.
Hatten Sie Einfluss ausüben können mit ihrer publizistischen Arbeit?
Nein, ich glaube nicht, dass wir Einfluss haben, auch auf Politiker haben wir überhaupt keinen Einfluss. Manchmal sind Politiker intelligente Leute. kultivierte Leute und denken gesund, aber dann bleibt alles wie es ist. Privat geht es, aber dann, im politischen Leben, hat der Mensch selbst nicht mehr den nötigen Einfluss. Da ist die Gruppe, und in der Gruppe gibt es andere Interessen als die menschlichen Interessen.
Nach der Moderne kam die Postmoderne. Wie haben Sie reagiert?
Es gibt ein Missverständnis. Man nennt modern, was man vor allem nach den beiden Kriegen gebaut hat. Aber diese Massenkonstruktionen nach dem Krieg, haben mit dem Modernen nichts zu tun, sehr wenig zu tun.
Ich selbst habe in Frankreich soziale Gebäude gebaut, mehrere Einheiten, 1200 Wohnungen. Ich habe probiert, etwas daraus zu machen. Aber da waren Normen, ich musste das so machen. Soviel Wohnungen mit zwei, so viele Wohnungen mit drei und so viel Wohnungen mit vier Zimmern. Die Wohnung mussten 27 Quadratmeter, mussten 40 Quadratmeter, mussten 58 bis 60 Quadratmeter haben. Die Höhe musste 2,50 Meter sein, die Fenster mussten ein Achtel …, also alles war vorgeschrieben. Und dann kam der Unternehmer, und wenn ich so etwas hatte, dann sagte er, nein, das ist viel zu kompliziert, bitte machen Sie es so, und meistens musste ich das so machen.
Ich habe versucht, etwas zu verbessern, aber ich weiß, es ist nicht gut, und darauf bin ich überhaupt nicht stolz. Das hat nichts mit moderner Architektur zu tun. Ich habe auch mehrere Schulen gebaut, auch da musste ein Modul von 1,75 Meter sein. Das ist eine ganz schlechte Zahl. Für ein Klo ist es zu groß und für zwei ist es zu klein und so weiter. Es gab denselben Typus für den Korridor und die Klassen. Man selbst kann sehr wenig helfen. Es gibt sehr wenige Beispiele, wo ein Architekt die Chance hat, etwas anderes zu machen, als es die Norm vorschreibt.
Es ist mir sogar geschehen, dass ich eine Aufgabe abgesagt habe, nachdem man meine Pläne, die schon sehr regelmäßig waren, nicht angenommen hatte, weil manches mehr oder etwas besser war, nach meiner Meinung. Da habe ich gesagt: Nein, das will ich nicht unterschreiben. Ich verzichte auf das Honorar, aber mein Name soll nicht erscheinen. Aber Architekten müssen auch leben und ihr Büro unterhalten und haben deshalb ganz schlechte Sachen gebaut.
Das hat mit der Moderne nichts zu tun, ein Gebäude ist nicht modern, weil es eine Terrasse hat. Man kann ganz moderne Architektur mit einem Dach haben. Ein Haus ist nicht modern, wenn die Fenster horizontal sind, manche auch vertikal oder was weiß ich was.
Für die wirkliche Moderne, was ich modern nenne, gibt es ganz, ganz wenig Beispiele, sie sind eine Reaktion auf diese hässliche Massenproduktion, die wir alle mitmachen mussten. Nur wenige Architekten konnten, weil sie bekannt waren, weil sie einen Namen hatten oder politische Beziehungen, etwas anderes machen.
Und was ist mit der Postmoderne?
Gegen die Moderne kam eine Reaktion, das ist normal, das hat man dann Postmoderne genannt. Was ist postmodern? Eigentlich, es ist schon ganz vorbei, es hat nur wenige Jahre gedauert. Das war schon wieder ein neuer Formalismus. Es ist kein Fortschritt, dass man jetzt Häuser wie im neunzehnten Jahrhundert mit kleinen Höfen hinten baut, und die Kinder sollen schon wieder auf der Straße spielen, wie damals, mit Autos und allem, das ist nicht möglich.
Dass man jetzt so komische Fensterformen macht, das ist ein neuer Formalismus, das ist nicht postmodern.
Danach kam auch noch der Dekonstruktivismus. Das sind Moden, die keinen festen philosophischen Grund haben. Diese Moden werden ausgenutzt von einigen, manchmal begabten Architekten, die davon leben: Ich mache Dekonstruktivismus, und dann kommt die Presse und spricht über diese Leute, die es machen.
Ein guter junger Freund, ein begabter Mensch, er könnte eine gute Architektur machen, aber mit seiner guten Architektur hätte er keinen Erfolg. Deshalb hat er etwas Schönes erfunden, eine „Architecture oblique“, die „schräge Architektur“. Er hat Pläne und Modelle gemacht und die Presse und das Fernsehen kam. Mit seiner „Architecture oblique“ ist er ein bekannter Mann geworden.
Heute gibt es keine wirkliche Bewegung, Philosophie oder Theorie. Es gibt Moden. Und dann natürlich gibt es Leute, die gute Kommerzianten sind.
Wie könnte man das ändern?
Ich habe probiert, manchmal in kleineren Kreisen einen Dialog anzufangen. Was nennt man wie, was geht und was nicht, wie könnte es besser sein?
In kleineren Kreisen, bei jüngeren Leute, nicht bei Studenten, aber sagen wir bei jungen Architekten, die noch nichts gebaut haben, die Zeit haben und Interesse, kann man etwas besprechen. Man kommt natürlich zu keinen endgültigen Lösungen, aber doch zu einer gewissen Klarifikation der Ideen. Aber das geht oft nicht sehr weit.
Vor einem Monat hatte ich ein internationales Treffen mit jungen Architekten in Genf. Also ich war der älteste junge Architekt, weil man mich eingeladen hat, eben weil man weiß, dass ich etwas andere Ideen habe. Und etwas sehr Interessantes: Ich bemerkte, die jungen Architekten, mit denen ich sprach, sind alle sehr pessimistisch. Sie sagen, ja natürlich, wir wissen das, aber man muss leben und man muss mit einer Gesellschaft arbeiten. Und dann ist man mehr oder weniger der Beamte dieser Finanzgruppen, die verlangen, was wir machen sollen. Also, es gibt so einen Pessimismus, das fühle ich in vielen Ländern.
Was Sie von dem neuen Berlin halten, vom Potsdamer Platz, will ich dann lieber erst gar nicht fragen.
Nein, besser wenn Sie nicht fragen. Na ja, ich möchte sagen, was da steht, ist an sich überhaupt nicht tragisch. Es gibt sogar einige interessante Bauten, nicht sehr gut, aber gut.
Was mit wehtut, sind die Möglichkeiten, die man verpasst hat. In der Mitte einer großen Stadt, so ein großes Gelände, wo man alles neu überdenken kann. Man hat sich nicht die Zeit gegeben, nachzudenken, also was soll jetzt da los sein. weil es so rasch gekommen ist. Es wird die Mitte einer großen Stadt sein, eines großen Landes, ja ich möchte sagen Europas.
Dass man in der Mitte der Stadt das gebaut hat, was man dort gebaut hat, viel zu schnell, viel zu dicht, keine Überlegung, kein Gesamtplan für die ganze Bevölkerung Berlins. Vier Millionen Leute, für alle diese sollte man ein Programm aufstellen und nicht sagen, hier ist ein Loch, da muss man füllen, das finde ich schrecklich. Es fehlt das Menschliche, eben ein Treffpunkt. Die Stadtmitte, was ist Mitte, wo ist die Mitte?
Fast alle Architekten, die dort was unterschrieben haben, könnten etwas viel Besseres machen, als was dort gebaut wird. Ich kann nicht glauben, dass ein Renzo Piano, der noch einer der besten ist, oder andere berühmte Architekten das so geplant haben. Das ist für die Architektur und für den Städtebau eine wirkliche Tragödie, und die wird man leider später fühlen. Schade.
Vielen Dank für das Gespräch.
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Bild 1: Bords_de_l'Huisne_Sablons Le Mans, Bords de l'Huisne Sablons, CC BY 3.0
Bild 2: Louvain-la-neuve, Katsoura, 03-louvain-la-neuve-17-01-2002, CC BY-SA 3.0
Bild 3: Potsdamer Platz Avda / www.avda-foto.de, Berlin - Potsdamer Platz - 2016, CC BY-SA 3.0
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